Start der Copa América: Zwischen Wut und Ablenkung
Von Tobias Käufer
Es ist ein buntes Völkchen, das sich auf der Avenida Paulista eingefunden hat. Die LGBTI-Gemeinde ist gekommen, Alt-Marxisten und junge Studenten. Es riecht nach Marihuana, nach Grillfleisch und nach jeder Menge Wut.
Am Ende des Tages sind es auf der Prachtstraße von Brasiliens Wirtschaftsmetropole São Paulo mehrere tausend Menschen, die gegen den rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro protestieren. „Bolsonaro raus“ steht auf Plakaten. „Ich bin gekommen, weil ich seine Kürzungen im Bildungswesen ablehne. Die Bildung ist unsere Zukunft“, sagt Studentin Fernanda (24). Bolsonaro hält die Universitäten für linksextreme Brutstätten. Aber er hat auch beim Militär, seiner Hausmacht, gekürzt. Die Kassen sind leer.
Nun gehen Studenten, Gewerkschaften, Professoren und Lehrer auf die Straße. Das kommunistische Symbol Hammer und Sichel ist überall zu sehen. Viele sympathisieren offen mit der kubanischen Diktatur. Eine Frau brüllt von einem LKW ins Publikum: „Bolsonaro macht Politik für das nordamerikanische Imperium, für die Superreichen!“
Im ganzen Land gehen am Freitag Menschen auf die Straße. Nicht überall ist es so friedlich wie in São Paulo. Es kommt hier und dazu Rangeleien. Ein all umfassender Generalstreik war das nicht. Zu klein, um Bolsonaro gefährlich zu werden. Aber auch nicht klein genug, um ihn zu ignorieren. Brasiliens gesellschaftliche Spaltung in Pro- und Contra-Lager wird wieder deutlich. Die beiden Lager verbindet nur die gegenseitige Abneigung.
„Mythos“-Rufe
30 Minuten Autominuten entfernt ist das andere Brasilien versammelt. Im Stadion Morumbi beginnt die Südamerikameisterschaft. Die Copa América, das älteste Nationenturnier, war immer auch ein politischer Spielball für die Regierungen. Am Abend fährt Präsident Jair Bolsonaro vor. Anhänger haben sich vor dem Stadion versammelt und rufen „Mythos, Mythos“. Der Spitzname des Präsidenten, benutzt von jenen, die ihn verehren. Beim Abspielen der Nationalhymne im Stadion ist er kurz zu sehen. Nur einen Augenblick, zu kurz, als dass das Publikum jubeln oder pfeifen könnte. Doch die meisten der 50.000 Zuschauer sind ohnehin Bolsonaro-Fans.
Nach mühsamer erster Halbzeit dreht Brasilien auf und gewinnt mit 3:0. Philippe Coutinho verwandelte in der 50. Minute einen Elfmeter nach Handspiel von Adrian Jusino. Nur drei Minuten später erhöhte Coutinho nach sehenswerter Kombination zum 2:0. In der 85. Minute traf Everton zum 3:0-Endstand. Ein Arbeitssieg. Mehr nicht.
Für das nach enttäuschender Fußball-WM und Olympischen Spielen vorsichtige Land aber auch ein kleiner Hoffnungsschimmer. „Ich will, dass Brasilien die Copa América gewinnt. Die Leute sollen wieder Hoffnung bekommen“, sagt ein Fan einem ausländischen Sender vor dem Stadion ins Mikrofon. Von einem erfolgreichen Turnier könnte Bolsonaro profitieren. Er, der Brasilien wieder groß machen will, braucht solche symbolischen Erfolge.
Bislang ist sein Start holprig. Es gibt im Parlament immer wieder Niederlagen. Dafür stabilisieren sich die Wirtschaftsdaten, die Mordrate geht zurück. Die, die sich nicht ideologisch festgelegt haben auf Pro oder Contra, bleiben misstrauisch, warten erst einmal ab, was Bolsonaro wirklich zu bieten hat.
Der sucht demonstrativ die Nähe zum Fußball. Am Mittwochabend zeigte sich Bolsonaro an der Seite seines Justizministers Sergio Moro im Stadion auf der Tribüne in Brasilia. Beide trugen ein Trikot von Rio de Janeiros Traditionsverein Flamengo, der ein Meisterschaftsspiel in der Hauptstadt austrug. Die Reaktion des Publikums: überwiegend Beifall und Jubel. Schon beim Testspiel gegen Katar, bei dem sich Superstar Neymar so verletzte, dass er für die Copa absagen musste, saß Bolsonaro auf der Tribüne. Anschließend eilte er ins Krankenhaus, um Neymar, gegen den eine Frau bislang nicht bewiesene Vergewaltigungsvorwürfe erhob, seine Solidarität auszudrücken. Es waren erste Testballons, um zu sehen, ob sich Bolsonaro bei der Copa América im Stadion blicken lassen kann oder nicht. Er wagte den Schritt nach São Paulo.
Für Dilma Rousseff endete ein solcher Versuch 2013 im Desaster. Als die Präsidentin zum Auftakt desConfed-Cups 2013 im Stadion erschien und ihr Gesicht auf der Anzeigetafel zu sehen war, gab es ein minutenlanges gellendes Pfeifkonzert. Für Rousseff war das eine Demütigung. Ein Jahr später ging sie bei der WM 2014 zwar wieder ins Stadion, ihr Gesicht war aber auf den riesigen Bildschirmen nicht mehr zu sehen. Bolsonaro war nur kurz zu sehen. Offenbar wollte die Stadionregie kein Risiko eingehen.
Die Proteste
Damals wie heute gab es Proteste. Beim Confed-Cup 2013 gingen erstmals tausende Menschen wegen fehlender Investitionen im Bildungs- und Gesundheitswesen auf die Straße. Es war der Anfang vom schleichenden Ende der lange regierenden linken Arbeiterpartei PT. Kurioserweise sind die Forderungen der Studenten heute die gleichen: Investitionen in die Bildung, nur dass es diesmal gegen eine rechte Regierung geht.
Das Lager des inhaftierten Ex-Präsidenten Lula da Silva (2003 bis 2011) hat nach jüngsten Veröffentlichungen des Lula-nahen Enthüllungsjournalisten Glenn Greenwald über den damaligen Ermittlungsrichter Sergio Moro neuen Schwung bekommen. Moro – so interpretiert Greenwald – habe Lula bewusst verurteilt, um eine Kandidatur für den nächsten Präsidentschaftswahlkampf zu verhindern.
Sie sehen ihre Vorwürfe erhärtet, das Verfahren sei politisch motiviert. Vielleicht nahm Bolsonaro Moro auch deshalb mit ins Stadion, weil er wissen wollte, wie des Volkes Seele reagiert. Die Antwort war ziemlich eindeutig.
Der verletzte Neymar kämpft derweil in São Paulo um seinen Ruf. Seine Auftritte bei der Polizei sind stets ein großer Medienauflauf. Weil Beweise fehlen, wird der Vergewaltigungsvorwurf kaum zu halten sein. Ohne ihn fehlt der Copa der Glanz.
Vieles ist anders als bei der WM und Olympia. Die Copa América ist ein, zwei Nummern kleiner, dadurch aber auch authentischer. Was durch die Knebelverträge mit FIFA und IOC unmöglich war, passiert diesmal: Straßenhändler schaffen es fast bis vor das Stadion. Sie machen endlich die Geschäfte, auf die sie 2014 und 2016 vergeblich gehofft hatten.