Auftakt gegen Schottland: Deutschland träumt vom Sommermärchen 2024
Von Christoph Geiler
Heute muss es also passieren. Wann, wenn nicht jetzt. Und wo, wenn nicht daheim. Eine bessere Gelegenheit als das Eröffnungsspiel einer Heim-EM wird sich dem deutschen Nationalteam nicht mehr bieten, um im ganzen Land das auszulösen, wonach sich alle sehnen: Eine Aufbruchstimmung und Euphorie wie sie seinerzeit beim Sommermärchen 2006 geherrscht hatte, dem letzten Fußball-Großevent auf deutschem Boden.
Das Problem an Emotionen, die ein ganzes Land mitreißen und tragen sollen, ist ja: Sie lassen sich nicht künstlich schüren oder irgendwie herbeireden. Selbst Organisations-Weltmeister wie die Deutschen stoßen diesbezüglich bei dieser Europameisterschaft an ihre Grenzen.
Und das spüren natürlich die Menschen vor dem heutigen Eröffnungsmatch gegen Schottland in der Allianz Arena von München (21 Uhr, live Servus TV, ZDF). „Nie war den Deutschen ihr Nationalteam so fremd“, titelte die Neue Zürcher Zeitung diese Woche und brachte den Grundtenor auf den Punkt.
Fragen über Fragen
Tatsächlich hat im Land, das sich über Generationen die Deutsche Gründlichkeit auf die Fahnen geheftet hat, neuerdings eine Deutsche Unergründlichkeit Einzug gehalten. Es tun sich plötzlich allerorts Fragen auf, die sich so zuvor nie gestellt hatten.
Warum ist die Deutsche Bahn auf einmal nicht mehr pünktlich? Wieso stottert der Wirtschaftsmotor? Weshalb erfolgen auf dem politischen Spielfeld so viele Angriffe über rechts? Und wieso ist auf Manuel Neuer neuerdings kein Verlass mehr?
Die Auftritte der deutschen Nationalmannschaft runden dieses Bild ab. Wäre die DFB-Elf ein Monat, dann würde man zwangsläufig im April landen. Viel launischer kann sich ein Team gar nicht präsentieren.
In den letzten zehn Monaten wechselten sich Blamagen gegen Japan (1:4) oder Österreich (0:2) mit Triumphen gegen Frankreich (2:1) oder die Niederlande (2:0) ab. Die beiden letzten Testspiele vor dem heutigen Eröffnungsmatch in München, ein schnödes 0:0 gegen die Ukraine und ein glückliches 2:1 gegen Griechenland, dienten ebenfalls nicht dazu, den Optimismus der Fußballfans zu steigern.
Durchwachsene Vorbereitungspartien wie diese hatte die DFB-Elf in der Vergangenheit immer wieder abgeliefert. Aber auf eines konnten sich die Deutschen fast immer verlassen: Ihren legendären und bei Gegnern gefürchteten Ruf als Turniermannschaft.
Verlorener Ruf
Kaum war eine Endrunde angepfiffen, liefen die Deutschen zur Hochform auf. Sobald es um die wichtigen Trophäen ging, war die DFB-Elf zur Stelle. Von der WM 2006 bis zur EM 2016 hatten die Deutschen sechs Turniere in Folge immer zumindest das Semifinale erreicht.
Dieser Nimbus der Turniermannschaft ist verloren gegangen und wurde zuletzt regelrecht mit Füßen getreten. Bei der EM 2021 kam Deutschland nur bis ins Achtelfinale, bei den vergangenen zwei Weltmeisterschaften war für den vierfachen Champion jeweils in der Vorrunde Endstation. „Unser Anspruch ist schon, dass wir bessere Ergebnisse erzielen als zuletzt“, erklärt Bundestrainer Julian Nagelsmann vor dem Auftakt. „Wir wollen unsere Fans im eigenen Land begeistern.“
Wenn das nur so einfach wäre. Deutschland präsentierte sich zuletzt als geteiltes Land. Die Ergebnisse der EU-Wahl vom Sonntag zeigten eine politische Landkarte, wie sie vor dem Mauerfall 1989 ausgesehen hatte. Hat der Fußball, hat das deutsche Nationalteam die Kraft, das gesamte Land mitzureißen, wie es bei der Heim-WM 2006 passiert ist?
Bernd Neuendorf, Präsident des DFB, ist überzeugt, dass ein Sieg im Eröffnungsmatch eine Aufbruchstimmung auslösen kann. Zugleich warnt er davor, ständig Vergleiche mit dem Sommermärchen von 2006 zu ziehen. „Jedes Turnier muss eine eigene Geschichte schreiben. Auch das Sommermärchen war nicht geplant.“
2006 begann das Sommermärchen mit einem 4:2 gegen Costa Rica
Damals hatte ein 4:2-Sieg im Eröffnungsmatch gegen Costa Rica dazu geführt, dass ein Land innerhalb von 90 Minuten aus dem Häuschen geriet und plötzlich alle Dämme brachen. Es gab während der WM keinen Abend, an dem am Ku’damm in Berlin nicht ein multikultureller, bunter Autokorso veranstaltet wurde.
Einen Sommer wie damals sehnt auch DFB-Präsident Bernd Neuendorf herbei. „Ich glaube, dass vom Fußball ein positives Signal ausgehen kann.“