Sport/Fußball

Der Schlusspfiff für die DDR

Es gibt Momente, in denen die Dynamik politischer Ereignisse dermaßen groß ist, dass sich Spitzensportler nicht mehr auf ihre Profession konzentrieren können. Im Herbst 1989 war dies der Fall, als in Berlin am 9. November die Mauer fiel. Sechs Tage später hatte die DDR das letzte Qualifikationsspiel für die WM 1990 in Italien gegen Österreich in Wien zu absolvieren. Ein Remis hätte zur WM-Teilnahme gereicht, es wurde ein 0:3.

Österreich fuhr letztlich nach Italien, Toni Polster schoss sich vom Buhmann zum umjubelten Helden. Es sollte das letzte Pflichtspiel der Deutschen Demokratischen Republik sein. Für Österreich ist das glorreiche 3:0 auch 25 Jahre danach noch ein glanzvoller Teil der Fußball-Geschichte.

Die ostdeutsche Nationalmannschaft mit ihrem Teamchef Eduard Geyer bereitete sich in der Sportschule Leipzig auf den bevorstehenden Showdown im Wiener Prater vor, als die Berliner Mauer fiel. "Es war nicht abzusehen, dass sich die Lage in dieser Form entwickeln würde. Zuerst waren wir alle sehr überrascht", erinnert sich Geyer an die Tage des politischen Wandels. Niemand wusste, wie es in Berlin und in den beiden deutschen Staaten weitergehen würde. Im Vordergrund stand nur die Freude, dass Verwandte einander wiedersehen konnten, ohne dass sie von einer Mauer daran gehindert werden.

Im Wechselbad

Die DDR-Kicker befanden sich in einer Zwickmühle: Mit einem Auge blickten sie in die Heimat, mit dem anderen in Richtung Wien. Geyer: "Trotzdem stand das Länderspiel schon im Fokus bei uns, aber unter sehr unglücklichen Sternen. Ich habe ja damals gesagt: Wenn die Grenze vier Wochen später aufgegangen wäre, wäre es bestimmt für unseren sportlichen Erfolg besser gewesen." Ähnlich sieht es heute Andreas Thom, der knapp nach dem Spiel der erste ostdeutsche Kicker war, der in den Westen (zu Leverkusen) wechselte. "Wir wären nicht traurig darüber gewesen, wenn das Ganze später passiert wäre."

Für Leverkusen-Manager Reiner Calmund waren die Tage rund um den Mauerfall und vor allem die Wochen nach dem Spiel von Wien spannend und reich an Ereignissen. "Wir haben uns alle Informationen reingezogen, alle Programme eingeschaltet. Und am 10. November ging das weiter am Arbeitsplatz. Für mich war klar: Samstag und Sonntag bist du in Berlin. Ich hatte immer einen Koffer in Berlin, das ist so ein Faible von mir." Das Faible sollte ihm die drei tollsten Transfers mit den DDR-Spielern Thom, Kirsten und Sammer einbringen. Tage nach dem Spiel sprach Calmund mit Geyer. "Er hat gesagt, dass null Konzentration oder viel zu wenig auf dieses Spiel vorhanden war. Das ist aber klar. Die Spieler hatten schon vor dem Spiel viereckige Augen vom Fernsehen. Sie waren aufgeregt, emotionalisiert und auch nicht ausgeschlafen."

Ungewissheit

Die DDR hatte sich sportlich einiges ausgerechnet. Man war davon ausgegangen, in Wien zu bestehen und das Minimalziel – ein Remis – zu erreichen. Eduard Geyer: "Zudem hatte das österreichische Team Probleme mit sich selbst. Man konnte die neue politische Situation aber nicht ganz verdrängen. Es war eine Zeit, die noch nie irgendjemand von uns erlebt hatte." Nach dem verlorenen Spiel hatte die DDR-Mannschaft weiter Bestand, Geyer flog sogar noch zur Auslosung für die folgende EM-Qualifikation nach Stockholm. "Da sind wir ausgelost worden zur BRD und zu Belgien. Danach war ich noch in Frankfurt zur Festlegung der Spieltermine. Das Komische war, dass ich allein gereist bin. Die anderen sind gekommen mit Vogts, Beckenbauer, Netzer. Das waren zehn bis 15 Mann. Ich bin allein gereist wie ein armer Sünder."

An der Qualifikation nahm die DDR aber nicht mehr teil. Lediglich am 12. September 1990 zum schon festgesetzten Termin trat man in Brüssel noch gegen Belgien an, allerdings in aller Freundschaft.

Die DDR gewann durch zwei Tore von Matthias Sammer mit 2:0.

TV-Tipp: ORF-Doku "Das letzte Spiel" von twoniksfilm am Samstag, 15. November, um 16.15 Uhr auf ORFeins.

Matthias Sammer war ein Rohdiamant des DDR-Fußballs, den später der Westen geschliffen und zum Weltklasse-Spieler gemacht hat. 1996 wurde er mit Deutschland Europameister. Der KURIER sprach mit dem Sportdirektor des FC Bayern München über den Sport in der DDR und das Spiel von Wien.

KURIER: Erinnern Sie sich noch an den 15. November 1989?

Matthias Sammer: Ja, das war wenige Tage nach dem Mauerfall. Das 0:3 mit der DDR in Wien.

Wie haben Sie diese für Ihr Land historischen Tage erlebt?
Es gab zwei Schwerpunkte: Zehn Spieler hatten damals Magenprobleme. Und dann diese gedanklichen Veränderungen – wir waren nicht fokussiert, das war einfach zu viel für uns. Wir haben uns gefragt, was das bedeutet. Die Geschichte hat damals etwas so Gewaltiges getan, das lässt sich nicht mit einem Fußballspiel lösen.

Im Teamcamp ging es damals um nichts anderes?
Richtig. Links, rechts, oben, unten. Immer nur dieses Thema. Wir konnten uns für die WM qualifizieren. Dann kam einer und gab zu bedenken: Jetzt ist die Mauer weg, sie reden schon von einem Staat. Uns wird es in dieser Form nicht geben, auch wenn wir zur WM fahren.

Sie kommen aus dem DDR-Sportsystem. Was ist davon nach der Wiedervereinigung verloren gegangen?
Das ist ein heikles Thema. Man hat es versäumt, sportartübergreifend die Qualität der damaligen Trainer anzuerkennen. Denn die war top. Und dadurch wurde auch nicht für einen gesunden Nachwuchs an Trainern gesorgt. Alles wurde durch das Thema Doping überdeckt. Das war auch richtig so, aber Inhalte und Organisationsformen wurden eben auch nicht weitergefördert.