Sport/Fußball-WM

Moskauer Engstellen: Fluchtweg aus der Jubelmasse

Flüssige Butter, die in gelben Spritzern aus dem angestochenen, eingerollten und panierten Stück Huhn über den Tellerrand fliegt, verteilt sich über den ganzen Tisch. Irgendwie erleichternd ist der Gedanke, doch nicht die Erdäpfel, explizit in der Speisekarte angepriesen als im „High-Fat“-Speck herausgebratene Beilage, gewählt zu haben. Die Entscheidung fiel auf weniger nahrhaftes Kartoffelpüree, welches – allerdings schon erkaltet – zum stichfesten Mörtel geworden ist.

„Es tut mir leid“, bedauert die Kellnerin. Sie lächelt, um Entspannung bemüht, trägt einen mit bunten Blümchen verzierten Kopfschmuck und aus dem Lautsprecher tönt in Dauerschleife Vogelgezwitscher – nein, man kann ihr nicht böse sein. Dann zeigt sie ins mit Kitsch überladene, sonst mit Gästen restlos gefüllte Lokal. „Es sind so viele Leute da. Ich kann nichts dafür.“

Überforderung.

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Verirrung

Ukrainische Spezialitäten, ausgerechnet in Moskau, in angespannten Zeiten wie diesen. Vielleicht war es nicht die beste Idee das Restaurant in der Pjatnizkaja Ulica aufzusuchen. Doch die Brücke über die Moskwa am Fuße des Kremls erschien der einzige Notausgang, um der mitreißenden Masse zu entkommen. In der Bar neben der Metrostation Nowokusnezkaja ist keine Ruhe zu finden, man wird überschüttet von dröhnenden Bässen. Und von Bier, wenn es sein muss. Vorrätig noch in rauen Mengen. Vier Schweizer können bereits mehrere Lieder davon singen. Sie stellen unverständliche Fragen an den jungen Mann, der Flüssigkeiten in Gläser gießt, Löffel in die Höhe schmeißt und zu oft fallen lässt. Der bemüht zur Schau gestellten Lässigkeit nicht zuträglich. „Das nervt“, murmelt er.

Russlands Hauptstadt hat den Ansturm der WM-Touristen erhofft, scheint aber mit der Überfallsartigkeit überfordert. Selbst die in den letzten Jahren im Turbokapitalismus geförderten Möglichkeiten eines hemmungslosen Konsums scheinen jetzt an ihre Grenzen zu stoßen.

Berechnung

Mit einer Million Besucher im Zeitraum der Weltmeisterschaft wurde spekuliert. Eine Übertreibung, widersprachen manche Experten. Wie viele es am Ende tatsächlich sein werden, bleibt abzuwarten. Bürgermeister Sergej Sobjanin behauptete im Vertrauen auf die Rentabilität nicht ohne Stolz: „Die WM bringt Moskau viel Aufmerksamkeit, die Zahl der Touristen wird sich schon im kommenden Jahr um zehn Prozent erhöhen.“

Die Fußball-WM als Triebfeder, die den Bürgermeister zur optimistischen Annahme verleitet, seiner Stadt werde dies in den nächsten zwei bis drei Jahren eine Zusatzeinnahme von 150 Millionen Euro bringen. Genug jedenfalls, um die Kosten für die WM wieder hereinzubekommen. Dem Bruttoinlandsprodukt sei damit aber kaum auf die Sprünge zu helfen, meinen die Skeptiker.

Ein Problem in der 15-Millionen-Metropole Moskau scheint derzeit die Konzentration der Menschenmassen auf die Viertel rund um die baulichen Berühmtheiten der Stadt zu sein. Dort bilden sich Engstellen und Engpässe. Touristen bejammern das punktuell einsetzende Versiegen von Bierquellen, in der hochfrequentierten Fußgängerzone des Arbat werden die Beschwerden lauter, viele Gerichte seien von den Speisekarten gestrichen worden.

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Verwirrung

Der Durchgang zum Roten Platz in den Innereien der Metro-Station Okotny Riad leidet unter Verstopfung, draußen vor den Zugängen bilden sich vor den Sicherheitskontrollen erhebliche Staus, in Stoßzeiten von bis zu hundert Metern Länge. Und das ständige Gedränge verdrängt all jene prägenden Eindrücke, die einen Moskau-Besuch vor der WM so besonders machten.

Genau deshalb wird sie möglicherweise doch nicht ganz aufgehen, die so zuversichtliche Rechnung des Moskauer Bürgermeisters.

Moskau: Sechs Mal so groß wie Wien

In der russischen Hauptstadt leben mehr als zwölf Millionen Einwohner, zählt man das angrenzende Umland dazu, sind es mehr als 15 Millionen. Die zwölf Verwaltungsbezirke erstrecken sich auf einer Fläche von 2510 Quadratkilometern, die Stadt ist damit sechs Mal so groß wie Wien.

Moskau verfügt über acht Fernbahnhöfe und drei internationale Flughäfen. Bekannt ist die Stadt auch für ihr Metro-System. Eröffnet 1935, werden mit zwölf Linien (190 Stationen) täglich bis zu neun Millionen Passagiere befördert.