Sport/Fußball-EM

Garics: "Zehn Jahre in Italien haben mich geprägt"

György Garics muss dieser Tage sämtliche Arten von Emotionen durchleben und verarbeiten. Als wäre das Duell mit Ungarn für den gebürtigen Ungarn nicht schon brisant genug, ist vor wenigen Tagen sein Vater nach schwerer Krankheit gestorben. Zu ihm hatte György eine besonders intensive Beziehung, gerade noch rechtzeitig hat er sich von ihm verabschieden können.

KURIER: Sie stellen sich in dieser Situation den Medien. Wieso?

György Garics: Weil ich das möchte. Bevor irgendwelche Dinge interpretiert werden, sollen lieber meine Worte wiedergegeben werden. Der Tod gehört zum Grundgesetz des Lebens, leider muss jeder gehen.

Konnten Sie Ihren Vater noch sehen?

Ja, ich habe die freien Tage vor der Abreise genutzt und bin nach Ungarn gefahren. Er hat noch durchgehalten und daheim seinen Frieden gefunden. Er war der Erste, der wollte, dass ich zur EM fahre. Wir haben am 8. Juni nach meiner Ankunft hier in Frankreich noch telefoniert, er hat mir mit einem Zeichen zu verstehen gegeben, dass er das alles mitbekommt. Am 9. Juni ist er gestorben.

Eine zwischenzeitliche Abreise vom Turnier ist kein Thema?

Nein. An einem schönen Tag, an einem schönen Ort haben mein Vater und ich ausführlich darüber gesprochen. Es wird keine Beerdigung geben, sondern nach der EURO eine Einäscherung.

Dennoch ist nun die EURO der fußballerische Alltag. Sie sind einer von wenigen Österreichern, die an zwei Europameisterschaften teilnehmen. Macht Sie das stolz?

Das ist wie bei den Oldtimern – je weniger es davon gibt, desto wertvoller sind sie. Ich bin einer der Ältesten in der Runde, das ist eine tolle Geschichte. Es gibt andere Kaliber von anderen Nationen, die das nicht schaffen. Ich freue mich sehr, daher habe ich dem Ziel alles untergeordnet, sportlich und auch familiär. Das ist ein Highlight und macht mich stolz – so lange Teil einer Nationalmannschaft zu sein.

Vergleichen Sie bitte die Turniere von 2008 und 2016.

Es ist schon ein gewaltiger Unterschied, wie anders der ÖFB heute aufgestellt ist. Von der Qualität her hat sich viel getan. Zu meiner Rolle: 2008 war ich noch ein Junger. Damals habe ich mehr Möglichkeiten gehabt, zu spielen, ich war bei der EURO zu Beginn aber auch kein Stammspieler.

Jetzt sind Sie zweite Wahl.

Im Fußball geht alles schnell. Ich weiß, dass ich nicht erste Wahl bin, aber ich empfinde das nicht als negativ. Teamchef Koller weiß, dass ich da bin, wenn er mich braucht.

Können Sie durch diese Situation anders ins Turnier gehen?

Vielleicht. Mir fallen heute mit der Routine Dinge auf, die mir damals nicht aufgefallen sind. Dabei sein ist alles. Natürlich möchte ich gerne spielen. Aber wir sprechen von einer Mannschaft. Ich gehöre zu den besten 23 Spielern Österreichs und mache jetzt mein zweites Turnier. Schlecht?

Nein. Sie gehen ja damit auch in die Geschichte ein.

Ich weiß, was es für mich bedeutet. Das ist wichtig. Weniger wichtig ist, was es den Leuten bedeutet. Ich weiß, wie schwierig es ist, das Level so lange halten zu können. Das ist eine Genugtuung.

Blicken Sie doch bitte kurz auf Ihre Karriere: Worauf sind Sie stolz?

Darauf, dass ich das Niveau so viele Jahre halten konnte. Erst in Italien, jetzt in Deutschland. Davon habe ich geträumt, aber gedacht habe ich mir das nicht. Es hat zwar nicht zu den ganz großen Vereinen gereicht, aber ich habe in zwei Top-Ligen gespielt.

Sie sind Ungar, Österreicher, Italiener – wer oder was sind Sie eigentlich?

Ich bin von allem etwas. Ich habe viel aufgesaugt. Und das, was ich in mir habe, kann mir niemand mehr nehmen. Ich habe versucht, von überall das Beste mitzunehmen. Ich gehe mit offenen Augen durch die Welt. Ich fühle mich auch überall zu Hause. Deutschland ist vielleicht noch ein wenig zu frisch. Ich habe die deutsche Mentalität immer bewundert. Sagen wir so: Die Deutschen können arbeiten, die Italiener leben. Zehn Jahre in Italien haben mich geprägt, das ist ein Lebensgefühl. Nach der Karriere wird unser Hauptwohnsitz auch Bologna sein, der Zweitwohnsitz Wien. Meine Frau ist verliebt in Wien.

Wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt?

In Neapel. Da habe ich ein sehr gutes Händchen gehabt. Sie steht zu mir. Es gibt nichts Schöneres.

Können Sie bitte die Mentalität der Ungarn beschreiben?

Es hat einen Grund, dass die Monarchie nicht gehalten hat. Ich bin ein Ungar, wie ich ein Österreicher bin. Es hatte Gründe, warum ich den österreichischen Pass angenommen habe. Hier wurde ich aufgenommen, dafür wollte ich mich bedanken. Ich habe mich aber auch gegen Ungarn entschieden.

Warum?

Sie haben sich nicht so gekümmert. Mein Vater hat viele Probleme mit dem Verband gehabt. Bis zu meinem ersten Bundesliga-Spiel in Österreich hat sich bei mir aus Ungarn niemand gemeldet. Das merkt man sich dann. Erst als alles in Österreich im Laufen war, habe ich plötzlich aus Ungarn etwas gehört. Da war es für mich zu spät. Es geht um Wertschätzung und Respekt. Man entscheidet sich oft für einen Verein nicht des Geldes wegen, sondern weil man das Gefühl hat, wirklich gewollt zu werden. Aus meiner jetzigen Situation betrachtet, habe ich alles richtig gemacht.

Sind Sie mit Ungarn im Reinen?

Ja. Der Schmerz ist schon lange Zeit vorbei.

Bis zu Ihrem Weggang – wie war Ihr Eindruck von Österreich mit dem Blick über die Grenze?

Der Papa hat in Österreich gespielt und mir immer Milka-Schokolade und Überraschungseier mitgebracht. Am Samstagmorgen habe ich immer "Tom & Jerry" geschaut im österreichischen Fernsehen. Verstanden habe ich zwar kein Wort, aber das braucht man bei "Tom & Jerry" auch nicht. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich dann ohnehin viel geändert für uns. Wir waren weder arm noch reich. Ich muss mich bei meinen Eltern dafür bedanken, was sie alles getan haben. Heute versuche ich, einiges zurückzugeben. Weil Geben im Leben schöner ist als Nehmen.

Woran erkennt man eigentlich den Ungarn in Ihnen?

Meine Frau sagt, ich bin wie ein Chamäleon und kann mich anpassen. Woran man Ungarn erkennt? Am Temperament. Am Stolz. An der Sturheit.

Sind die Ungarn stur?

Sicher. Ein weiteres Beispiel: Ich kann auch mit einfachen Dingen glücklich gemacht werden.

Während der Flüchtlingskrise wurde Ungarns Präsident Orban nach dem Zaunbau heftig kritisiert. Wie haben Sie das medial verfolgt?

Intensiv, weil es mich interessiert hat.

Haben Sie sich damals für Staatschef Orban geniert?

Nein. Viele Politiker haben ihn kritisiert, obwohl sie vielleicht dasselbe hätten machen wollen. Sie konnten das aber nicht. Orban hat die ersten Ohrfeigen bekommen, und heute machen andere Staaten nichts anderes als Orban vor knapp einem Jahr. Ich habe von Beginn an verstanden, was Orban gemacht hat und warum.

Erklären Sie es uns!

Europa hatte in seiner Geschichte viele Kriege und wurde danach wieder aufgebaut. Viele sind weggegangen, aber die meisten sind geblieben. Europa hat sich seine Werte geschaffen, die sollen auch Bestand haben. Leute, die Hilfe benötigen, sollen sie auch bekommen. Daran besteht kein Zweifel. Unruhestifter braucht man jedoch nicht. Ich bin als Ungar nach Österreich gegangen und habe mich anpassen müssen. Dann bin ich nach Italien gewechselt und habe mich angepasst an eine neue Kultur, Mentalität und Sprache.

Werden Sie von Ihren Kollegen aufgrund Ihrer Wurzeln so knapp vor dem Ungarn-Spiel oft befragt?

Nein. Teamchef Marcel Koller stellt uns auf die Ungarn ein.

Die Karriere

Der gebürtige Ungar kam mit 14 Jahren nach Österreich in die Nachwuchs-Abteilung von Rapid. Von 2002 bis 2006 absolvierte er für die Hütteldorfer 81 Spiele, ehe er zu SSC Napoli wechselte. Nach den Stationen Atalanta Bergamo und Bologna versucht er seit Sommer 2015 sein Glück in der Deutschen Bundesliga bei Darmstadt. Für Österreich hat er 41 Länderspiele bestritten und zwei Tore erzielt. In Frankreich nimmt Garics an seiner zweiten Europameisterschaft teil.

Der Kosmopolit

Garics wuchs in Szombathely auf und zog mit 14 Jahren nach Wien. Er fühlt sich als Ungar, Österreicher – und Italiener. Der 32-Jährige ist mit Irene verheiratet. Nach der Karriere wollen sie in Bologna leben.