Leben/Reise

Heimliche Reiche: Länder, die es gar nicht gibt

Alles nahm vor einigen Jahren mit einem Roman von C.S. Lewis seinen Ausgang: Damals las Nick Middleton seiner sechsjährigen Tochter aus Der König von Narnia vor. "Zu Beginn gibt es eine Szene, in der ein kleines Mädchen in einen Kleiderschrank steigt und in einem fremden Land wieder heraus kommt", erzählt er.

Die Idee, dass es Länder gibt, die keiner kennt, ließ Middleton, der ein vielgereister Geograf an der Universität Oxford ist, nicht mehr los. Er begann zu recherchieren und fand. Jetzt ist sein Atlas der Länder, die es nicht gibt auf Deutsch erschienen.

Kennen Sie Cabinda, Moskitia oder Forvik?

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"Ich war total verblüfft, wie viele es waren", sagt er im KURIER-Interview. Nicht einmal er als Geograf wusste von mehr als ein paar. "Nordzypern zum Beispiel oder Katalonien, Taiwan und Tibet kennt man. Aber Cabinda, Mapuche, Forvik, Ahwaz, Moskitia, Dinetha, Lubicon oder Hutt River?"

Dabei hat Middleton kein Spaß-Land in seinen Möchtegern-Länder-Atlas aufgenommen. "Ich hatte strenge Kriterien: Die Länder mussten irgendeine Art von Regierung haben, ein robustes Selbstvertrauen, eine Hymne, eine Flagge. Die ist ganz wichtig für die Identität; Menschen lieben Fahnen", sagt er. Und weiter: "Sie dürfen aber keinen Sitz bei den Vereinten Nationen haben, denn praktisch alle ,echten’ Länder sind in der Generalversammlung der UN vertreten." Einige der Leider-Nein-Länder können sogar mit eigenen Pässen oder Fußball-Nationalmannschaften aufwarten. Auf den meisten Weltkarten aber sind sie nicht verzeichnet.

Keine Definition

Noch im 19. Jahrhundert waren klar definierte Grenzen, wie sie in Europa existierten, in großen Teilen der Welt unbekannt. "Bis heute gibt es keine wasserdichte Definition, was ein Staat, ein Land oder eine Nation ist. Das hat mich als Geograf regelrecht schockiert", sagt Middleton. Und so hätte er das Buch gleich mehrfach füllen können. Nachsatz: "Ganz leicht."

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Parallelwelt

Wer sich in seinen liebevoll gemachten Atlas vertieft, betritt eine Parallelwelt reich an vergessener Geschichte. "Alle diese Länder haben eine starke, schräge oder lehrreiche Geschichte." Die schönste ist für Middleton die der Lakotah. "Im 19. Jahrhundert wurde ihnen das Land rund um die Black Hills, das immer das ihre gewesen war, von der US-Regierung vertraglich zugesagt", erzählt er. Wenig später fand man dort Gold, die US-Regierung übernahm das Gebiet – ohne Kompensation. Erst 100 Jahre später sprach ein Gericht den Lakotah eine Entschädigung zu. "Sie aber lehnten das Geld ab, obwohl sie bettelarm waren. Denn das Geld anzunehmen, hätte bedeutet, das Unrecht zu legalisieren." 2007 gründeten die Ureinwohner die Republik Lakotah und kündigten alle Verträge mit Washington DC – ein symbolischer Akt der Selbstbehauptung.

Rapa Nui

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Immer wieder wurden die Rechte von Ureinwohnern mit Füßen getreten. Man denke nur an Rapa Nui: Dort schloss ein chilenischer Offizier mit dem König eine "Freiwillige Vereinbarung". In der spanischsprachigen wird Chile die Herrschaft über die Insel zuerkannt, in der auf Rapanui firmiert Chile als "Freund der Insel". Der König, ein Analphabet, unterzeichnete mit einem Kreuz.

Man lernt im Möchtegern-Länder-Atlas aber auch einige Spinner und ihre Reiche kennen, Länder, deren Nationalhymne nach der Melodie von O Tannenbaum gesungen wird oder nur aus Meeresrauschen besteht.

Vergessenes Seborga

Wussten Sie etwa, dass Seborga bei der Gründung des Vereinigten Königreichs Italien vergessen wurde und daher ein eigenständiges Land ist? Der Prinz auf Lebenszeit, Giorgio Carbone, ein ehemaliger Blumenzüchter, trägt den Titel "Ungeheuerlichkeit". Oder, dass die EU bis in den Indischen Ozean, bis zur Insel Mayotte, reicht? Oder, dass die Königswürde der Insel Redonda an Dichter wie Dylan Thomas, Dorothy Sayers oder J.B. Priestley verliehen wurde?

Freistaat der Hippies

Besonders schön sind die Ausflüge zu den verschiedenen Gallischen Dörfern auf der ganzen Welt, wo die Menschen mit List und Tücke Widerstand leisten. Christiania ist so ein Fall: 1971 riefen dort Hippies einen Freistaat aus. Die dänische Regierung wusste nie so recht, wie sie mit der Kommune umgehen sollte. In Christiania werden Gesetze missachtet, die im Rest des Landes gelten. Und keiner schreitet ein.

Aufgegebene Ölplattform

Ähnlich skurril ist die Geschichte von Sealand, einer Ölplattform in der Nordsee. "Sie wurde von der britischen Regierung vor 50 Jahren aufgegeben. Roy Bates, ein ehemaliger Mayor der Infanterie, hörte davon und richtete sich dort ein", erzählt Middleton. Als sich Bates Sohn mit der Küstenwache eine Schießerei lieferte, weil die ,seinem Reich’ zu nahe gekommen war, kam es zum Prozess. Doch der Richter fühlte sich für "dieses testosterongesteuerte Scharmützel im Stile eines Sir Frances Drake" nicht zuständig. "Sorry, ich kann kein Recht über sie sprechen, denn sie fallen nicht in die britische Rechtssprechung", meinte er. Damit war Sealands Souveränität aktenkundig.

Grönland

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Für Grönland – "mein Lieblingsland" (Middleton) – könnte die bald Realität werden: 2009 endeten dort 300 Jahre dänischer Herrschaft. In die Nationaltracht gewandet (einem Anorak mit Glasperlen-Kragen und Seehundstiefeln) verkündete Königin Margrethe II. die Selbstverwaltung – der letzte Schritt vor der endgültigen Souveränität, wie viele glauben.

Buchtipp

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Nick Middleton: "Atlas der Länder,die es nicht gibt“
Quadriga, 32,90 €