Leben/Reise

Geisterstädte um Fukushima als Touristenziel

Die Uhr im Klassenzimmer ist um 15.38 Uhr stehen geblieben - genau in dem Moment, als am 11. März 2011 der Tsunami die japanische Küste erreichte. Durch die zerborstenen Fenster der Turnhalle ist der Unglücksreaktor von Fukushima zu sehen. Unterricht findet in dieser Volksschule in der Kleinstadt Namie seit fünf Jahren nicht mehr statt. Doch nun gehen Touristen durch das zerstörte Gebäude.

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"In der Region Fukushima lässt sich sehen, wie verheerend ein Atomunfall ist", sagt Touristenführer Shinichi Niitsuma. "Ich will, dass die Besucher diese Geisterstadt sehen, diesen Ort der Hoffnungslosigkeit." Der 70-Jährige ist einer von zehn Freiwilligen, die Touristen durch Namie und andere verlassene Städte der Region führen.

Starke Strahlung

Namie liegt nur acht Kilometer von dem havarierten Atomkraftwerk entfernt. Nach der durch ein Seebeben ausgelösten Katastrophe wurde die gesamte Stadt evakuiert. Auch nach fünf Jahren ist die Strahlung immer noch so stark, dass bisher kein Bewohner nach Namie zurückkehren durfte.

Bei der Führung stellt Niitsuma mit einem Dosimeter sicher, dass die Besucher nicht zu großer radioaktiver Belastung ausgesetzt sind. Nächste Station der Rundfahrt sind die Weiden von Masami Yoshizawa.

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Der Bauer hält hier noch immer 300 Kühe, die sich von radioaktiv verseuchtem Gras ernähren. Er weigert sich, die Tiere zu schlachten, wie es die Behörden verlangen. Er wolle damit gegen den Kraftwerksbetreiber Tepco und die Regierung protestieren, erklärt der Bauer den Besuchern. "Ich will den Menschen auf der ganzen Welt sagen: Was mir passiert ist, kann morgen auch euch widerfahren."

"Wir müssen sicherstellen, dass es nie mehr ein Fukushima gibt", sagt auch Akiko Onuki. Die 61 Jahre alte ehemalige Lehrerin hat den Tsunami überlebt, doch sechs ihrer Schüler und ein Kollege starben. Deshalb hat auch sie sich den freiwilligen Touristenführern angeschlossen.

"In Wirklichkeit hat sich noch gar nichts getan"


"Ich bin schockiert", sagt Chika Kanezawa, eine Teilnehmerin der Tour. "Das Fernsehen und die Zeitungen berichten von Fortschritten beim Wiederaufbau und dass sich das Leben wieder normalisiert. Aber in Wirklichkeit hat sich noch gar nichts getan hier", empört sich die 42 Jahre alte Frau aus Saitama nördlich von Tokio.

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Der Englischlehrer Tom Bridges ist ebenfalls aus Saitama nach Namie angereist, um sich selbst ein Bild zu machen. "Das ist keine fröhliche Reise, aber eine notwendige", sagt er. Jetzt könne er die Wut und die Frustration der Opfer verstehen.

Touristenführer Niitsuma macht sich Vorwürfe, dass er sich vor der Katastrophe nicht in der Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert hat. "Ich hätte das ernster nehmen sollen", sagt er. "Deshalb arbeite ich als Führer - um das wieder gut zu machen."