Der letzte Geheimtipp im Südendes Balkans
Von Wilhelm Wurm
So nah und doch so fern. Nur eineinhalb Flugstunden liegen zwischen Wien und Tirana, und doch Welten. Jedenfalls für jene, die mit Skepsis zum Erstbesuch aufbrechen. Finsterer Balkan, geheimnisvolles Absurdistan, Blutrache, Banden heißen die Vorurteile.
Düstere Vergangenheit
Absurd und geheimnisvoll, das war Albanien. Nach dem 2. Weltkrieg bis 1989. In der kommunistischen Diktatur des Enver Hoxha vegetierte das Land dahin als Armenhaus Europas, isoliert vom Rest der Welt.
1978 meine erste Reise. Mächtig skurril. Einreise nur mit Kurzhaar, Badehose nicht zu kurz und eng, Knipsen nur mit Erlaubnis des Reiseleiters, ohne den sowieso kein Schritt ging. Am Flughafen Tirana eine monumentale Stalin-Büste, in der Stadt regelten Polizistinnen einen Verkehr, der kaum da war. Ein paar Pferdefuhrwerke, Busse, Radler und hie und da eine gepanzerte Bonzen-Limousine. Privat-Autos gab es nicht. Im ganzen Land aber Bunker aus Angst vor imaginären Feinden. Hirten saßen Karten spielend auf der Straße, in Fabriken meißelten Arbeiter nach dem politischen Bruch mit Mao die letzten chinesischen Schriftzüge von den Wänden. Man rühmte sich ob des ersten selbst hergestellten Traktor-Monsters. Auf Gebirgswänden priesen große Kalklettern den Führer Hoxha, der Gotteshäuser zu Sporthallen und Lagern umfunktionieren ließ. Die Putzfrau traute sich nicht einmal Zuckerl als Danke zu nehmen, dafür kostete ein Whisky an der Hotelbar in Durres schon10 US-Dollar.
Heute? Alles ganz, ganz anders. Einreise ohne Auflagen, Statue von Mutter Teresa statt Stalin. Kein Aufpasser. Freiheit wie anderswo in Europa. Tirana im Mercedes-Stau, Polizisten kassieren Strafgelder, statt Chaos zu entwirren. Die meisten Bunker sind als Stahlspender verarbeitet, ein paar letzte begehrte Foto-Motive. Aus einstiger Angst vor den Nachbarn soll touristische Mittelmeer-Allianz werden. Die Straßen sind immer noch schlecht, aber keiner sitzt mehr dort. Statt primitiven Traktoren moderne Landwirtschaftstechnik, statt stalinistischer Diktatur neokapitalistische Republik, statt "Enver" heißt’s jetzt "Never". Kirchen und Moscheen sind mühevoll rückgebaut in Gebetsstätten, Trinkgeld ist willkommen und der Whisky kostet statt 10 US-$ jetzt 700 Lek, sind 5€.
Absurd ist manches schon noch, speziell die seit Jahrhunderten übliche Blutrache im Norden als Selbstjustiz gegen Verletzung der Ehre. Ein spannendes Thema für Touristen, aber man ist nicht bedroht. Auch nicht von Korruption und Kriminalität. Beides laufe kaum anders als sonstwo, vielleicht nur weniger diskret, erklärt der Guide. Und die wirklich kriminellen Albaner seien längst dort, wo’s was zu erben gibt. Die vielen Mercedes? Von den ersten Auswanderern in Deutschland gekauft, heißt es. Und gut verwendbar für Ernte-Transporte.
Unbekanntes Europa
Empfehlenswert ist die Gruppen-Rundreise durch das wohl unbekannteste Land Europas, das "Geheimtipp" verdient, mit "Juwel der Adria", wie Touristiker preisen, aber übertreibt. Sauberer Bus, gut Deutsch sprechender Reiseleiter.
Tirana gibt sich hektisch. Ein wirres Architektur-Konglomerat mit italienischen Boulevards, mediterranen Fassaden, osmanischen Elementen sowie stalinistischen und modernen Bauten. Zentrum ist der Platz des Nationalhelden Skanderbeg (Feldherr gegen die Osmanen im 15. Jh.) mit Oper, Nationalmuseum, Moschee, Uhrturm und Regierungsgebäuden. Auffallend die modischen Miniröcke und High Heels, im Gegensatz dazu die "grünen" Frauen, die täglich einen mühevollen Kampf gegen die Mistberge führen. Müll ist ein Riesenproblem im Land, selbst die schönsten Strände und protzigsten Burgen sind übersät mit Plastikflaschen und -sackerln. Zunehmend trendig wird Tirana als Städteziel, besonders bei Jungen. Flottes Nachtleben, Super-Clubs, Cafés und Restaurants.
Eine klassische touristische Anlaufstelle in Tirana ist das 5*-Rogner-Hotel, 1995 als erstes Nobel-Haus westlichen Zuschnitts eröffnet und vom steirischen Manager Hermann Stingeder in Schuss gehalten. Als Experte sagt er: "Albanien hat sich geöffnet, holt politisch, wirtschaftlich und humanitär auf und strebt selbstbewusst Richtung EU/Europa. Große Teile sind noch unberührt vom Massentourismus, traumhaft-urige Küstenabschnitte und Landschaften stehen für Authentizität. Dazu die herzliche und offene Gastfreundschaft der Menschen, ein perfekter Mix."
40 km westlich von Tirana der Adria-Hafen Durres. Kühe, Schafe, Hühner , Karren schleppende Esel und Wracks säumen Straße und Gleise, auf denen noch keine E-Loks, sondern alte tschechische Dieselzüge rattern. Durres ist "Badewanne" mit flachen, weiten Sandstränden, einladender Promenade, mit Flair, Gusto-Meilen und historischen Resten, aber auch mit hässlichen Bausünden, weil klobige Hotelkomplexe Türme und Minarette bei Weitem überragen. Am Obstmarkt hört der Tourist, dass es die weltbesten Tomaten nur in Albanien gibt. Und im Café orakelt der Ober, dass Albanerinnen die schönsten Frauen der Welt sind. An Patriotismus und Nationalbewusstsein mangelt es nicht.
Albanische Riviera
Weiter nach Süden mit beeindruckendem Küsten-Panorama nach Vlora, wo das Ionische Meer beginnt. Ganz anders als an der Adria prägen Steilküste, verträumte Buchten und kristallklares Wasser die "Albanische Riviera". Spannend ist der Besuch des nahen Porto Palermo, wo Tunnels als stumme Zeugen stehen für Lande-Portale russischer Flottenverbände während des Kommunismus. Der Bus schleicht sich durch sattes Mediterranien weiter gegen Süden. Vorbei an Autofriedhöfen, Buden mit Reifen und Spiegeln und vielen Obststandln. Alles frisch, reif und billig, willkommene Abwechslung zur Fleisch-dominierten Küche: Schwein, Rind, Huhn, Lamm als Eintopf, am Grillspieß oder als Faschiertes (meist mit Joghurt und Zitrone), dazu Gemüsen der Region. Danach einen lauwarmen Raki, und alles ist okay. Fast selbstredend, dass Albaner behaupten, ihr Küchenmix gehöre zum Besten in Europa und verweisen prompt auf Rene Redzepi, ihren halb albanischen Starkoch, der mit dem "Noma" in Kopenhagen höchste Ehren schafft. Na ja, wo der geführte Tourist hinkommt, schmeckt und passt das meiste, alles zu günstigen Preisen, ausgenommen edler Meeresfisch.
Von Vlora drängt sich der Bus auf schmaler Straße nach Berat, der "Stadt der 1000 Fenster". Festungsmauern, mittelalterliche Kirche, Ikonen-Sammlung, osmanische Brücke. Reicher Fundus für jene, die UNESCO-Erbe schätzen.
Ganz im Süden Saranda, zehn km von Korfu entfernt. Tages-Touristen kommen mit Fähren aus Griechenland, genießen das albanisch-griechische Flair in der malerischen Bucht, wo gerne kleine, feine Holzbungalows gemietet werden. Im Umland von Saranda wartet weiteres UNESCO-Weltkulturerbe: das antike Butrint mit spektakulären archäologischen Überresten und die Museumsstadt Gjirokastra, Hoxhas Geburtsort, mit engen Gässchen und wunderbarem Blick von der Burg auf die berühmten Steindächer.
Holprige Pässe führen in den Norden nach Shokdra und in die Seenlandschaft. Gebirgig, unzugänglich, karg, rückständig. Schafherden zwischen Dörfern, deren Häuserfassaden von dicken Wülsten an Kabeln verbunden sind. Die kleinen Cafés beginnen sich auch dort ab neun Uhr zu füllen, weil ja sonst nicht viel zu tun ist, außer Schuhe zu putzen oder Mais zu grillen, um ein paar Lek einzunehmen.
Sonst gilt: Cremigen Kaffee schlürfen, qualmen trotz Rauchverbots, fernsehen, über Fußball, Skandale und Wetter reden und am Stammtisch die Welt erneuern – aber das ist nicht nur Albanern ein Anliegen.