Widerstand im Orban-Land
Darf ich überhaupt mit Ihnen reden?" Die ältere Dame ist verunsichert. Zwei Stunden lang hat sie hier, im bis auf den letzten Platz gefüllten "Bürgerlichen Salon" der rechten FIDESZ-Partei, gehört, wie schlimm die ausländische Presse wütet. Dass Lügen verbreitet, Hassartikel geschrieben und die Leistungen des ungarischen Premiers Viktor Orban und seiner rechtskonservativen FIDESZ-Partei nicht verstanden würden. Und nun soll sie, eine bekennende Orban-Anhängerin, einer fremden Journalistin antworten. Nur so viel lässt sich die sonst nicht verschreckt wirkende Frau entlocken: "Natürlich habe ich Orban gewählt." Und ja, natürlich werde sie ihn auch das nächste Mal wieder wählen. Ausländische Kritik am Führungsstil Orbans hin, Schelte von der EU her – für sie sowie für alle Zuhörer im Saal ist und bleibt Viktor Orban ihr politischer Rockstar.
Überzeugte Orban-Anhänger sind in ihrem Glauben nicht zu erschüttern, weiß auch Andras Istvanffy. Doch der quirlige junge PR-Fachmann hat die anderen Ungarn im Auge: Die, die Orban 2010 in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Ungarn gewählt hatten. "Es gibt mittlerweile eine große Enttäuschung im Land", konstatiert der schmale, aber energische 30-Jährige.
Gegenkraft
Weil er der heruntergewirtschafteten sozialistischen Opposition keine Chance gibt, gegen Orbans gut geölte Parteimaschine zu bestehen, nehmen Istvanffy und eine Handvoll Gleichgesinnter die Sache nun selbst in die Hand: Eine links-liberale Gegenkraft soll her. "Im Mai haben wir den Gründungskongress unserer Partei. Sie wird ‚4. Republik‘ heißen – denn die 3. ist mit der Verabschiedung der neuen Orban-Verfassung gestorben." Mit seiner demokratisch gewonnenen Zweidrittelmehrheit schaffe der "populistische Premier", so der Vorwurf, scheibchenweise die Demokratie ab.
Sie sind alle sehr jung, die Mitstreiter Istvanffys. "Wir sind eine neue Generation. Wir sehen uns als Sozialdemokraten, haben aber keine kommunistische Vergangenheit." Als Mitorganisator der jüngsten großen Anti-Regierungsproteste hat sich Andras Istvanffy einen Namen gemacht. Dass es seine "4. Republik" bei Wahlen ins Parlament schaffen wird, bezweifelt der selbstbewusste Orban-Kritiker nicht.
Umfragen ermittelten zwar, dass derzeit 65 Prozent der Ungarn überhaupt nicht wählen würden. Nur die neo-faschistische Jobbik legte in diesem Klima zuletzt zu. Doch Istvanffy ist sich sicher: "Wenn es wieder eine ernst zu nehmende Alternative zu FIDESZ gibt, werden die Ungarn wieder wählen."
Existenzsorgen
Streit um die neue Verfassung, die Medienfreiheit, Druck von der EU – vielen Ungarn ist das egal. Sie plagen Existenzsorgen, so wie die Arbeitsuchenden vor Budapests Arbeitsamt für den 9., 10. und 22. Bezirk. Drinnen stehen die Schlangen bis zur Eingangstür, draußen schlottert ein hagerer Enddreißiger in der bitteren Kälte . "16 Jahre habe ich im Reinigungsdienst der öffentlichen Verkehrsbetriebe der Stadt Budapest gearbeitet", erzählt der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Vor einem Monat wurde ihm und seinen Kollegen gekündigt. Die Stadt muss sparen.
Gekürzt wird auch die Hilfe für die fast elf Prozent Arbeitslosen. Sie wurde von der Regierung auf 90 Tage reduziert. Danach gibt es nur noch karge 76 Euro pro Monat Sozialhilfe und die Verpflichtung für alle Arbeitslosen, sich einen Tag pro Woche zu "freiwilliger Hilfe" bei den Behörden zu melden.
Düsteres 2012
Ökonomen sehen Ungarn in ein düsteres Wirtschaftsjahr 2012 gehen. Und das nicht nur wegen der von der sozialistischen Vorgängerregierung geerbten Schuldenlast und der Eurokrise, sondern auch wegen der "vielen eigenen, schweren wirtschaftspolitischen Fehler", bilanziert Wirtschaftsexperte Laszlo Akor. Ausländische Unternehmen und Banken mit einer Sondersteuer zu belegen und so Investoren zu verprellen, sei nur einer davon gewesen. "Wirklich fatale Folgen hat die neue 16-prozentige Flat-Tax", befürchtet der ehemalige Finanz-Staatssekretär. "Wenn die Leute ihre Lohnzettel sehen, merken sie, dass ihnen viel mehr Steuern abgezogen werden als früher."
Im Durchschnitt würden die Einkommen heuer um 2,5 Prozent sinken – und damit auch der Lebensstandard. "Diese Erfahrung ist eine ganz andere, als es sich die Ungarn bei den letzten Wahlen erwartet hatten", sagt Akor. Umfragen bestätigen: 82 Prozent der Bevölkerung glauben, das Land sei auf dem falschen Weg.
Ganz anders sieht dies Pisak Gyorgyi. Die junge Frau wittert "nur Neid" hinter den Vorwürfen, mit dem Umbau der staatlichen Strukturen zementierte Orban seine Macht auf Jahre hinaus ein. "Ihr" Viktor Orban, das ist einer, "der die Kühnheit hatte, dem IWF einmal Nein zu sagen". Freilich, fügt sie hinzu, "werden wir wieder mit dem IWF reden müssen". Denn ohne die Milliarden des Währungsfonds, das wissen auch die treuesten Orban-Fans, droht Ungarn der Staatsbankrott.
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Hintergrund
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