Woran das Gesundheitssystem derzeit krankt
Heinz-Christian Strache tat es diese Woche fast täglich, zuletzt Freitagabend in einem ZiB2-Interview. Wann immer der Vizekanzler auf die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt, kurz AUVA, angesprochen wurde, deponierte er zwei zentrale Botschaften: Nein, man wolle und werde die von der AUVA geführten Unfallkrankenhäuser natürlich nicht zusperren. Und nein: Die medizinische Versorgung der Patienten solle selbstverständlich nicht schlechter werden.
Die Feststellung tat not – immerhin hatte seine Parteikollegin, Gesundheitsministerin Beate Hartinger-Klein, Ärzte- und AUVA-Vertreter an mehreren Tagen auf die Straße getrieben, indem sie weiter ventilierte, dass die AUVA pro Jahr rund 500 Millionen Euro, und damit de facto fast 40 Prozent ihres Jahresbudgets, zu sparen habe.
Sparen im Gesundheitssystem? Nun, das ist politisch eine fordernde Angelegenheit.
Denn geht es nach den Patienten, soll sich im Gesundheitswesen möglichst nichts ändern. Warum auch?
Erst im Vorjahr stellte die OECD in einer Studie fest, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in Österreich seit dem Jahr 2000 von 78,3 auf 81,3 Jahre angestiegen ist und damit deutlich über dem Schnitt der EU-Nachbarn liegt. De facto jeder Österreicher ist krankenversichert, und nicht nur akute Fälle werden hierzulande nach höchsten Standards therapiert – ungeachtet der Kosten.
Die Österreicher lieben und schätzen also ihr Gesundheitssystem.
Doch bei aller Zufriedenheit darf eines nicht übersehen werden, was Experten seit Jahren festhalten: Österreichs Gesundheitssystem ist zwar gut. Aber es ist längst nicht so gut, wie es um die gut 18 Milliarden Euro, die die Österreicher allein in die Krankenversicherung pro Jahr einzahlen, sein könnte.
Gemessen am Bruttoinlandsprodukt gibt Österreich deutlich mehr aus als der Rest der EU-Staaten (siehe Grafik).
Auffallend ist: Die Österreicher werden zwar älter als andere Europäer. Sie sind dabei aber auch wesentlich schlechter beisammen, sprich: Es fehlen ihnen die gesunden Jahre. Während man in Europa im Schnitt 63 Jahre alt wird, ehe man ernst- oder dauerhaft erkrankt, ist dies in Österreich bereits mit 58 der Fall; nicht zu reden von den Schweden, die statistisch gesehen 74 gesunde Jahre erreichen. Österreich gibt also viel Geld für ein System aus, das die Menschen nicht so gesund hält, wie sie sein könnten. Insofern hat die Regierung einen Punkt: Das System hätte tatsächlich Potenzial zur Verbesserung.
Im Großen, wie bei der grundsätzlichen Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern. Aber auch im Kleinen, also bei der Frage, welche Leistungen welche Kasse für welche Patienten bezahlt.
Der KURIER hat exemplarische Fallbeispiele gesammelt, die zeigen, wo das Gesundheitssystem objektivierbare Schwächen aufweist – und wie leicht diese zu beheben wären.
Landarzt-Mangel: Für so wenig Geld macht das keiner gern
Italien ums Eck, ein Skigebiet vor der Türe, Berge, und gute Luft auch noch: Wen es nach Kötschach-Mauthen verschlägt, der kann nur glücklich sein.
Würde man meinen. Fragt man bei
Walter Hartlieb nach, ist die Lage eine andere: Seit Oktober ist dort die Kassenarztstelle ausgeschrieben, „aber beworben hat sich niemand“, sagt der Bürgermeister des 3500-Einwohner-Orts.
Hartlieb ist mit seinem Problem nicht allein. Auch in Niederösterreich, der Steiermark und Tirol gibt es viele Kommunen, die keinen Landarzt finden; in Kärnten wird sich das noch verschärfen: Bis zu 100 Hausärzte gehen in den nächsten fünf Jahren in Pension. Warum keiner nachrücken will? Nun ja – zum einen ist da die Arbeitsbelastung, sagt Maria Korak-Leiter, Landärztin in Maria Rain. Man sei „Arzt mit Haut und Haaren“, am Wochenende genauso wie in der Nacht. Fünf Minuten pro Patient blieben ihr im Schnitt, sagt sie – und damit ist man beim zweiten Grund für die Misere: „Im Vergleich zu Fachärzten ist die Vergütung gering“, sagt die 56-Jährige. Als Privat- oder Wahlarzt und im Spital verdiene man mehr. „Junge Kollegen fragen sich, warum die das Risiko einer Landarztpraxis auf sich nehmen sollen.“
Aufbessern ließe sich das Salär, wenn eine Hausapotheke an die Ordination angeschlossen ist. „Doch das ist bei uns in Kötschach-Mauthen nicht der Fall“, sagt Hartlieb – das sei der Grund, warum die letzten beiden Ärzte die Ordination aufgegeben hätten. Aber immerhin, verzweifelt ist Hartlieb noch nicht. „Wir haben einen Interessenten, doch der wartet noch auf seine Zulassung – er ist nämlich Deutscher.“
Überfüllte Ambulanzen: Ein Drittel der Fälle ließe sich telefonisch lösen
Man kennt das: Ausgerechnet am Sonntag beginnen die Ohren zu schmerzen, man zerrt sich den Rücken oder wollte schon immer dieses verdächtige Muttermal untersuchen lassen. In den Spitalsambulanzen kennt man das auch – überfüllte Wartezimmer und gestresste Ärzte, die sich auf die echten Notfälle konzentrieren sollten, sind die Folge.
„Ich verstehe das schon. Die Menschen haben Angst, wenn ihnen etwas wehtut. Das Problem ist, dass vielen das Gespür dafür fehlt, wie man mit dem medizinischen Angebot sorgsam umgeht“, sagt Peter Niedermoser, Präsident der oö. Ärztekammer. Das Spital ist die mit Abstand teuerste Variante, deshalb soll in Oberösterreich das Modell des „Ärztenotdienstes“ (nachts sowie Freitag, 19 Uhr, bis Montag, 7 Uhr, unter der Nummer 141) ausgeweitet werden. 24-Stunden-Beratung gibt es als Pilotprojekt gerade in
Wien, Niederösterreich und Vorarlberg unter der Nummer 1450. Oberösterreich hat sich vom „Ärztetelefon“ in der Schweiz inspirieren lassen und will die Rund-um-die-Uhr-Beratung voraussichtlich ab Herbst anbieten. „In jeder Region hat immer ein Allgemeinmediziner Dienst und kommt notfalls ins Haus. Vieles lässt sich aber am Telefon klären, oder am nächsten Tag beim niedergelassenen Arzt“, sagt Ärztekammer-Präsident Niedermoser.
In der Schweiz hat man die Erfahrung gemacht, dass etwa ein Drittel der Anrufer nach medizinischem Ratschlag mit der Selbstbehandlung erfolgreich war und die Ambulanzen wesentlich entlastet werden konnten. „Da wollen wir auch hin“, sagt Niedermoser.
„Flexible Lösungen“: Westen kämpft um seine Hausärzte
Wenn in Vorarlberg ein Mittfünfziger Druck in der Brust verspürt, braucht er nicht gleich einen Facharzt, der ihn auf Herzinfarkt-Verdacht durchcheckt. Sein Hausarzt würde ihm vielleicht sagen, dass er zu viel Stress hat, sich gesünder ernähren oder mit seiner Frau vertragen soll. „Ein Hausarzt kennt seine Patienten oft über Jahrzehnte und begleitet sie bei all ihren Beschwerden“, sagt Burkhard Walla, Internist in Dornbirn.
Der Hausarzt hat in Vorarlberg traditionell einen hohen Stellenwert. „Er ist die erste Anlaufstelle, klärt ab, was der Patient braucht und vermittelt ihn zu einem Spezialisten, wenn es nötig ist“, erklärt Walla. Der Patient spart dadurch Zeit – der Hausarzt kann beim Kollegen einen Dringlichkeitstermin buchen.
Dazu kommt, dass Allgemeinmediziner im westlichsten Bundesland mehr Leistungen anbieten dürfen als im Osten, etwa einen Ultraschall, 24-Stunden-Blutdruckmessung oder die Verschreibung mancher Medikamente, für die es sonst einen Oberarzt braucht. Dieses Mehr trägt dazu bei, dass ein Facharzt in Vorarlberg kaum mehr Geld verdient als ein Hausarzt, sagt Walla, Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte.
Diese „Besonderheiten“ bzw. „flexible Lösungen“, sagt Walla, hat sich die Ärztekammer mit der Gebietskrankenkasse ausverhandelt. Das ist auch der Grund, warum sich Vorarlberg am stärksten gegen die geplante Kassenzusammenlegung wehrt. „Was interessiert es Wien, wie wir im Kleinwalsertal Probleme lösen?“, meint Internist Walla. „Wir befürchten, dass über uns drübergefahren wird.“
Zu wenige Kinderärzte: Wer schnell einen braucht, zahlt besser
Ihr Kind hat Angina, Sie brauchen schnell einen Arzt?
Dann lohnt es sich, Geld in die Hand zu nehmen – denn Kassenärzte sind in Wien Mangelware. „84 Ärzte mit Kassenvertrag kommen auf 110 Wahlärzte“, sagt Rudolf Schmitzberger, Kinderarzt im fünften Bezirk. Auch in anderen Bundesländern – etwa der Steiermark – kennt man das. In Wien ist es ob der hohen Bevölkerungsdichte und der sozialen Schichtung doppelt schwerwiegend. „Vor allem im zehnten und elften Bezirk haben wir viele Beschwerden“, sagt Patientenanwältin Sigrid Pilz. „Da werden selbst Eltern mit Neugeborenen oder Geschwisterkindern, die schon in Behandlung sind, abgewiesen – und an einen Wahlarzt verwiesen“, sagt sie. In Gegenden, wo „ohnehin nicht der Reichtum zu Hause ist“, sei das Ganze darum besonders dramatisch, meint Pilz – viele könnten sich den Wahlarzt nicht leisten.
Die Gründe dafür sind ähnlich wie bei den Landärzten: Ein Kinderarzt bekommt pro Patient und Quartal nur 18,70 Euro Grundleistung, deutlich weniger als andere Fachärzte – nur kommen die kleinen Patienten viel öfter. Bei 1200 Kindern pro Quartal ist nur die Arbeitsbelastung hoch: „Wir sind auf der untersten Schiene der Honorierung.“
Seitens der WGKK heißt es, man wolle das Problem angehen – „Verbesserungen des Honorierungssystems bei gleichzeitiger Verminderung des administrativen Aufwandes“ seien geplant. Für Schmitzberger ist das auch dringend nötig: „Viele meiner Kollegen sind um die 60. In den nächsten Jahren bekommen wir sonst ein Riesen-Versorgungsproblem.“
Engpässe in Spitälern: Zur Geburt muss man raus aus Wien
„Was, Sie sind schon in der zwölften Woche und haben noch kein Spital? Da kann ich Ihnen auch nicht helfen.“
Wer in Wien ein Kind erwartet, muss sich an Antworten wie diese gewöhnen: Meist wird einem schon beim Frauenarzt geraten, kurz nach Feststellen der Schwangerschaft sofort zur Geburtsanmeldung zu schreiten. Kommt man zu spät, hat man kein Spital – und das passiert ziemlich oft: „Ich habe bei fünf Krankenhäusern angefragt und bin überall abgewiesen worden – weil ich schon im dritten Monat war“, erzählt eine 33-jährige Wienerin.
Franz Bittner, Patientenombudsmann in Wien, kennt das Dilemma. In Wien gebe es viel zu wenige Geburtsplätze – wegen einer „völlig vertrottelten Reform“, wie er sagt. Vor zwei Jahren wurde die Geburtenstation des Hanusch-Spitals aufgelassen, die 1000 Geburten dort würden nicht von den anderen Spitälern kompensiert. Wenn mit Jahresende die Geburtenstation im Göttlichen Heiland schließt und nach St. Josef verlagert wird, werde sich das noch verschärfen, sagt Patientenanwältin Sigrid Pilz. „Dann sind die Schwangeren wie die Heilige Jungfrau auf Herbergssuche.“
Nötig wäre für sie neben einer Aufstockung eine zentrale Online-Anmeldung, um die Patientenströme besser zu steuern; etwas, das bis Anfang des Jahres hätte funktionieren sollen. Womit man sich bis dahin hilft? Mit Auswandern. „Ich hab jetzt eine tolle Alternative außerhalb von Wien gefunden – Klosterneuburg“, sagt die werdende Mutter. Dort melden sich Frauen erst gegen Ende der Schwangerschaft an – vorher darf man nämlich gar nicht.