Politik/Inland

Selbstkritische Wien-Rede von Gernot Blümel: "Wir sind nicht so!"

Gernot Blümel ist unzufrieden. Womit, das ist an dieser Stelle noch nicht von Bedeutung. Denn jenem Gernot Blümel – Finanzminister, Wiener ÖVP-Chef und studierter Philosoph – der am gestrigen Mittwoch im Schottenstift vor die mehr als 100 geladenen Gäste trat, geht es um die Unzufriedenheit an sich.  

"Unzufriedenheit ist per se nichts Schlechtes. Ich sehe sie als Gegensatz zur Selbstzufriedenheit", sagt Blümel, bevor er die Zuhörer mitnimmt auf eine Tour d’Horizon durch sein politisches (Selbst-)Verständnis. Angekündigt hat er eine "Wien-Rede" – zumindest an diesem Abend will Blümel zuallererst Wiener ÖVP-Chef sein, nicht Finanzminister.

Es gehe ihm vor allem um die "rote" Selbstzufriedenheit, die Wien in Gefahr bringe, wird er daher wenig später sagen. Da ist er, der Wien-
Bezug. Diese Selbstzufriedenheit, so Blümel, suggeriere Selbstverständlichkeit. "Aber nichts von Menschen Geschaffenes ist selbstverständlich." Das gelte auch für Lebensqualität und Wohlstand in der Stadt. "Wien kann mehr." Den letzten Satz kennt man aus dem Wahlkampf 2020. Fast genau ein Jahr ist seit der Wien-Wahl vergangen, das Jubiläum ist zugleich der Anlass für die Rede.

Wahlrückschau - Opfermythos inklusive

Was dann folgt, ist eine Rückschau auf die Wahl – ein bisschen Opfermythos inklusive. Er erzählt von "bewusst verbreiteten Unwahrheiten", "gefälschten Mails" und "einer geeinten Allianz aller gegen uns". Ob er noch von Wien spricht oder schon von der Bundespolitik? Unklar.

Dann wird es grundsätzlich: Blümel zitiert den Politikwissenschafter Francis Fukuyama und den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Später sollen Ökonom Milton Friedman, Feministin Alice Schwarzer und der FPÖ-Ideologe  Lothar Höbelt folgen. (Das schafft nicht jeder in nur einer Rede.) Man merkt, hier – auf der Metaebene – fühlt sich Blümel wohl. Unwohl fühle er sich "seit Mai letzten Jahres mit dem innenpolitischen Umgang miteinander", sagt er. "Ich nehme dabei keine Partei aus." Es ist nicht das einzige Mal, dass er Selbstkritik übt.

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Bei "Selbstkritikfähigkeit und Diskursfähigkeit" sehe er in der Innenpolitik "Aufholbedarf". Es gehe um den Wettbewerb der Ideen. Darum, „gemeinsam zu gestalten, nicht darum, sich gegenseitig zu vernichten“. Und dann zitiert Blümel tatsächlich den Bundespräsidenten – oder zumindest fast: "Wir sind nicht so!"

Der frühere Bundeskanzler Wolfgang Schüssel, der als Ehrengast den Anfang machte, klang da kurz zuvor ähnlich: Er kritisierte "Hass und Polarisierung" – und nahm auch die eigene Partei in die Pflicht: Bei der Sprache sei (in Anspielung auch die Chats) in der ÖVP "eine Selbsterkenntnis" nötig. (Sebastian Kurz blieb der Veranstaltung übrigens fern.)

Blümel nimmt wenig später auch auf die ideologische Grundlage der ÖVP Bezug. Was man hört, klingt überraschend (alt-)bekannt und neu zugleich: Die "Christliche Soziallehre" nennt er, "das Konservative" und  "das Bürgerliche". Die von der türkisen Führung  stets proklamierte "Mitte-rechts-Politik mit Anstand" erwähnt er  nicht. Das überrascht  auch  so manch anwesenden Funktionär. "Wir suchen ein neues Wording."

Die soziale Frage unserer Zeit sind die Sorgen des Mittelstandes“

Gernot Blümel
über Gerechtigkeit

Der zentrale Punkt in Blümels Rede: "Die soziale Frage unserer Zeit sind die Sorgen des Mittelstandes." Es gehe um jene Menschen, "die mit Steuern das System finanzieren – und andere sehen, die noch nie einen Cent ins Sozialsystem eingezahlt haben und genauso viel erhalten". Da ist Blümel wieder ganz Finanzminister – er spricht von der gesenkten Einkommenssteuer, vom Familienbonus, von Abschreibemöglichkeiten für Anlagevermögen. Kritik übt er an Großkonzernen, "die Milliardengewinne machen und keine Steuern zahlen".

Gleichmacherei der Sprache

Aber auch kulturell kämen die Bürgerlichen zu kurz: Die breite Mitte, die "schweigende Mehrheit", die "Normalen" fänden sich "im gesellschaftspolitischen Diskurs gar nicht wieder".  Etwa, wenn es darum geht, "wie man das Binnen-I korrekt intoniert" oder ob es "mehr als vier Geschlechterbezeichnungen auf Formularen" brauche.

Er sorge sich um die Meinungsfreiheit: "Freiheit der Meinung wird durch Freiheit von Meinung ersetzt." Diesen Satz muss man sickern lassen, um ihn zu verstehen. "Moralisch induzierte Meinungskontrolle funktioniert über Gleichmacherei der Sprache." Blümel, ein Kämpfer gegen die "moralische Meinungselite"? Nicht ganz glaubwürdig.

Überraschend persönlich endet die Rede: Immer wieder wird Blümel nachgesagt, er sei  zu wenig fröhlich, zu steif. "Ich will keinen Kasperl, der mich regiert. Ich bin kein Schauspieler. Ich bin einer, dem es um die Sache geht. So bin ich. Und so bleibe ich." Jetzt wirkt Blümel wieder glaubwürdig.