Politik/Inland

Güngor: "Unkritischer Führerkult ist bedenklich"

kurier.at: Über 73 Prozent der wahlberechtigten Austro-Türken haben für Erdogan gestimmt. Das klingt auf den ersten Blick sehr hoch, die Zahlen muss man aber doch relativieren. Genau genommen waren von den rund 300.000 türkisch stämmigen Menschen hier in Österreich etwas über 100.000 wahlberechtigt, zur Wahl ist davon ziemlich exakt die Hälfte gegangen, und von denen haben rund 38.000 mit "Ja" gestimmt.

Kenan Güngor: Nur zur Richtigstellung, es waren nicht 73 Prozent der Wahlberechtigten, sondern derer, die zur Wahl gegangen sind, und das waren nicht 110.000, sondern nur rund 50.000 Menschen. Aber vermutlich ist die Wahlbeteiligung noch viel geringer ausgefallen. Der Anteil derer, die eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, ist eigentlich viel höher als die genannten 110.000, das ist ja nur die offizielle Zahl von Türken, die hier leben und eine türkische Staatbürgerschaft besitzen. Es gibt aber viel mehr Menschen, die inoffiziell auch die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen, und die eigentlich auch wählen hätten dürfen.

Wie hoch schätzen Sie dann das inoffizielle Wählerpotenzial hier in Österreich?

Auch die türkischen Behörden wissen das nicht so genau. Ich vermute, dass die Anzahl irgendwo zwischen 140.000 und 180.000 Menschen liegen könnte. Rechnet man die dazu, die eigentlich nicht zur Wahl gegangen sind, dann war die Wahlbeteiligung noch viel niedriger, also zwischen 30 und 40 Prozent und weit hinter der Beteiligung in der Türkei.

Wie erklären Sie sich, dass so viele Menschen, obwohl sie wählen hätten dürfen, hier nicht zur Wahl gegangen sind?

Dafür gibt es viele Gründe, einer ist aber sicherlich, dass ein nicht unerheblicher Teil ihren Lebensmittelpunkt hier sieht und sich vom Referendum selbstverständlich weniger betroffen fühlt als die Menschen in der Türkei.

Kann es sein, dass viele auch Angst hatten, wählen zu gehen? Also, dass sich einige Menschen auch gedacht haben, sie möchten ihre doppelte Staatsbürgerschaft nicht gefährden?

Das mag vielleicht bei einigen Menschen eine Überlegung gewesen sein, aber nimmt man vorangegangene Wahlen her, dann hat die Beteiligung ja zugenommen, das Argument ist also nicht schlüssig. Ich glaube, ein Grund war, dass viele "Nein"-Wähler massive Bedenken hatten, was mit ihrer Stimme wirklich passiert, ob die wirklich gezählt wird. Und bei vielen Menschen werden die türkische Botschaft und die Konsulate mittlerweile nicht mehr als neutraler Boden angesehen, sondern als infiltrierte Schaltstellen der AKP im Ausland.

Rund 40.000 Menschen haben dennoch mit "Ja" gestimmt. Wer ist diese Wählerschicht genau?

Man muss hier soziologisch sehr genau sein. Das sind höchst wahrscheinlich Menschen, die sich sehr stark mit der AKP und Erdogan verbunden fühlen. Ein Teil kommt sicher auch vom organisierten Umfeld der Vereine, die sehr stark für Erdogan Werbung gemacht haben, auch in den Moscheen beim Freitagsgebet. Dort wurden die Leute aufgerufen, mit "Ja" zu wählen, man hat das im ländlichen Raum auch organisiert und hat die Leute zur Botschaft zur Wahl gebracht. Mobilisiert wurden sie auch durch das türkische Fernsehen, die Leute konsumieren oftmals ausschließlich türkische Medien, und in den Medien gab es eine sehr einseitige mobilisierende und polarisierende Staatspropaganda.

Aber das würde doch heißen, dass sich die Mehrzahl der Austro-Türken gegen Erdogan ausgesprochen hat. Oder ist das ein Trugschluss?

Wir reden jetzt nur von jenen Menschen, die wählen durften und auch zur Wahl gegangen sind. Wir wissen nicht, wie eine Umfrage Pro- oder Contra-Erdogan unter allen hier lebenden Austro-Türken ausgehen würde.

Müssten wir auch mit über 70 Prozent Zustimmung rechnen?

Das ist rein spekulativ, ich glaube aber, dass es nicht 70, sondern vielleicht nur 60 Prozent sein könnten. Wir müssen bedenken, dass wir hier in Österreich eine sehr starke Einwanderergruppe aus Zentalanatolien haben, und wir sehen ja beim Wahlausgang in der Türkei, dass genau in dieser Region die AKP sehr stark war. Also könnte es durchaus sein, dass wir hier in Österreich ein ähnlich hohes Abstimmungsergebnis aller Türken für Erdogan haben könnten.

Jetzt heißt es, dass die Integration gescheitert ist. Kann man das so pauschal sagen?

Die politische Einstellung der Menschen ist nur ein Teil der Integration. Man muss schon klar sagen: Der überwiegende Teil der Türken in Österreich lebt ein ganz normales Leben, sie gehen arbeiten, zahlen Steuern. Jetzt von einer komplett gescheiterten Integration zu sprechen, wäre falsch. Die Menschen können integriert sein, aber eine komplett andere - und meines Erachtens mitunter sehr problematische - politische Einstellung haben. Das ist nur eine Dimension der Integration.

Aber den Türken in Österreich schadet das Ergebnis insgesamt.

Wir müssen einen selbstkritischen Diskurs mit Teilen der türkischen Gemeinschaft starten. Sie müssen sich die Fragen gefallen lassen, wie es möglich ist, in einem freiheitlichen, demokratischen Rechtsstaat zu leben, aber in ihrer Heimat diese Errungenschaften abschaffen wollen. Diese Diskussion muss geführt werden. Aber diese Auseinandersetzung muss kritisch und präzise passieren und darf nicht pauschal alle Türken über einen Kamm scheren. Man muss aufpassen, dass man die Leute jetzt nicht alle als Erdogan-Anhänger hinstellt und alle Türken hier in Österreich in Geiselhaft nimmt. Das wäre mir zu einfach. Aber Erdogan hat den Türken in Europa keinen Gefallen getan, sie haben sich klar von ihm missbrauchen lassen und die Auswirkungen bekommen sie jetzt zu spüren.

Aber die "Ja"-Wähler hätten doch die Möglichkeit gehabt, sich ordentlich über Medien zu informieren und dann ihr Stimmverhalten noch einmal zu überdenken. Das "Ja"-Lager hat sich aber für die Abschaffung der Demokratie in der Türkei entschieden.

Wir in Europa sehen das so, dass Erdogan die Türkei Richtung Türkei Diktatur treibt. Die türkische Propaganda, die über die Medien verbreitet wird, spricht davon, dass die Türkei ein starkes Land werden soll, und von inneren und äußeren Feinden daran gehindert werden soll. Den Leuten kann man natürlich vorwerfen, dass, obwohl sie hier die Möglichkeit haben, vielseitig zu informieren, sich unkritisch von der türkischen Staatspropaganda beeinflussen haben lassen. Aber die Abstimmung war bei vielen auch nicht von Sachfragen dominiert, sondern sie stimmten aus Loyalität und Solidarität für einen starken Führer. Erdogan könnte morgen genau das Gegenteil sagen, sie würden wieder mit "Ja" stimmen. Dieser unkritische Führerkult ist nicht minder bedenklich.