ÖVP-Parteirebell Othmar Karas: Kompromisslos für die europäische Sache
Als europäisches Gewissen der ÖVP machte sich Othmar Karas innerhalb und außerhalb seiner Partei einen Namen. Der langjährige Europaabgeordnete bekleidet seit 2022 den einflussreichen Posten des Ersten Vizepräsidenten im Europaparlament. Sein kompromissloser Einsatz für die europäische Sache führte jedoch zunehmend zu Konflikten mit der eigenen Partei: Ob Asyl- und Migrationspolitik, "Bargeld in der Verfassung" oder EU-Budget - die Distanz wurde immer größer.
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Der heute 65-Jährige forderte stets weitere EU-Integrationsschritte, etwa eigene EU-Einnahmen und die Einschränkung des Vetorechts bei EU-Abstimmungen. Die Europäische Union müsse angesichts des größten Umbruchs seit 1945 in der geopolitischen Neuordnung auch künftig eine Rolle spielen, lautete sein Argument. Politikern in Österreich warf er vor, nur die Parteipolitik zu sehen und mangelnde staatspolitische Verantwortung zu zeigen.
In der Migrations- und Asylpolitik forderte Karas einen Verteilungsmechanismus und legale Fluchtwege. Er kritisierte "Pushbacks" an der EU-Außengrenze und forderte - zum Ärger seiner ÖVP-Parteikollegen - ein Verstoßverfahren gegen Griechenland. Die von Türkis-Blau forcierte Kürzung der Familienbeihilfe für im Ausland lebende Kinder kritisierte er als EU-rechtswidrig, der EuGH gab ihm Recht.
Dabei hat Karas in seiner politischen Karriere mit Gegenwind zu leben und zu warten gelernt. Schon seit 1999 sitzt er als Europaabgeordneter der ÖVP in Brüssel und Straßburg. In dieser Funktion war er lange nicht in erster Reihe, aber immer bemüht, die europäische Idee in Österreich populär zu halten.
Die ÖVP-Delegationsleitung übernahm Karas 2006, als Ursula Stenzel in die Wiener Kommunalpolitik wechselte. 2009 musste er mitansehen, wie er von seinem damaligen Parteikollegen Ernst Strasser als Spitzenkandidat der Volkspartei bei den Europawahlen und schließlich als ÖVP-Delegationsleiter im Europäischen Parlament trotz eines fulminanten Vorzugsstimmenwahlkampfes ausgestochen wurde. Nachdem Strasser wegen einer Korruptionsaffäre zurücktreten musste, übernahm Karas wieder die Delegationsleitung.
Einer von 14 Vizepräsidenten des EU-Parlaments war Karas bereits von 2012 bis 2014 sowie von 2019 bis 2022. In den beiden Europawahlen 2014 und 2019 trat er als Spitzenkandidat der ÖVP zur Europawahl an. In beiden Urnengängen konnte die ÖVP klar ihren ersten Platz verteidigen.
Karas wurde am 24. Dezember 1957 in Ybbs an der Donau als Sohn eines Bezirksschulinspektors und einer Volksschuldirektorin geboren. Der Niederösterreicher begann seine politische Laufbahn früh: Im Alter von 19 Jahren war er Obmann der ÖVP-nahen Schülerorganisation Union Höherer Schüler (UHS). Mit 22 holte ihn die Partei als politischen Referenten, und mit 24 war er Bundesobmann der Jungen ÖVP und Vizepräsident der Europäischen Union Junger Christdemokraten.
1981 heuerte Karas bei der Raiffeisen-Zentralkasse Niederösterreich an, wo er 14 Jahre lang tätig war. Die letzten sieben Jahren davor war er auch stellvertretender Generalsekretär der Bundesländer Versicherung. In diese Zeit fällt auch seine Hochzeit mit der Tochter des verstorbenen Bundespräsidenten Kurt Waldheim, Christa. Ihr Sohn Gabriel arbeitet heute unter anderem für den von seinem Vater gegründeten überparteilichen Verein "BürgerInnen Forum Europa".
Von 1983 bis 1990 saß Karas im Nationalrat. Als erster Nationalratsabgeordneter stellte er 1985 einen Antrag im Parlament auf Beitritt Österreichs zur Europäischen Gemeinschaft - also zehn Jahre vor dem tatsächlichen Beitritt. Bevor er nach Brüssel wechselte, war Karas sogar die Stimme seiner Partei, unter Wolfgang Schüssel war er von 1995 bis 1999 nämlich ÖVP-Generalsekretär. 1996 schloss er ein Studium der Politikwissenschaften sowie einer Fächerkombination aus Rechtswissenschaften, Versicherungswirtschaft und Publizistik- und Kommunikationswissenschaft ab.
Im Europaparlament hatte Karas zahlreiche Funktionen inne: In seiner eigenen EVP-Fraktion war er Fraktionsvize und Schatzmeister. Derzeit ist er Vize-Vorsitzender des Unterausschusses für Steuerfragen und Vollmitglied im Ausschuss für Wirtschaft und Währung. Karas war in der vergangenen Legislaturperiode auch Leiter der Russland-Delegation des Europäischen Parlaments.
2001 setzte der ehrgeizige Niederösterreicher zum Sprung ganz an die Spitze des Europaparlaments an - und schaffte es nicht: 2021 unterlag der Vizepräsident innerhalb seiner EVP-Fraktion der maltesischen Abgeordneten Roberta Metsola als Kandidat für den Posten des EU-Parlamentspräsidenten.