Politik/Inland

Ungarn-Boykott: Türkis-Grün hat keine gemeinsame Linie

Die EU-Kommission boykottiert die aktuelle Ratspräsidentschaft Ungarns. Bei künftigen informellen Ministertreffen werden keine Kommissare mehr, sondern nur noch ranghohe Beamte teilnehmen, verkündete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestern, Montag. Anlass sind die "Friedensmissionen", die den ungarischen Premier Viktor Orbán unter anderem zu Russlands Präsident Wladimir Putin geführt hatten. 

Der österreichische Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) heißt Maßnahmen gegen Ungarn nicht gut, wie er schon vergangene Woche erklärte. Am Dienstag wird in seinem Büro die bisherige Linie bekräftigt: Boykott sei die falsche Maßnahme. Dort ist auch von einer "Position der Bundesregierung" die Rede - dass es die gibt, ist aber mehr als fraglich.

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Brunner: "Es geht um die Zukunft Europas"

Als erster erklärte ÖVP-Finanzminister Magnus Brunner am Dienstag, er habe "natürlich Verständnis für die Europäische Kommission, hier ein Zeichen zu setzen". "Auf der anderen Seite geht es um die Zukunft Europas. Und ich gehe davon aus, dass auch Ungarn die europäische Idee ganz vorne dran stellen wird", so Brunner

Es gehe darum, die drängenden Probleme der Europäischen Union wie etwa die Wettbewerbsfähigkeit voranzubringen und auch mit dem ungarischen Vorsitz weiter zusammenzuarbeiten. 

Ob er selbst zu dem informellen Treffen der Finanzminister fahren wird, ließ sich Brunner offen. Die Bundesregierung werde eine gemeinsame Linie diskutieren.

Brunner, der sich für den Posten des EU-Kommissars in Stellung gebracht hat, plädiert zudem für eine rasche Nominierung des österreichischen Kommissars, "damit auch ein entsprechendes Portfolio für Österreich am Ende des Tages übrig bleibt". Den von den Grünen vorgeschlagenen Ex-Vizepräsidenten des Europaparlaments, Othmar Karas (ÖVP), schätze er sehr, so Brunner.

Kocher zurückhaltend

Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher übte sich bei der Frage, ob er an den Räten teilnehmen werde, in Zurückhaltung. Dies hänge immer vom Terminplan ab. 

Zur Frage des Stimmrechtsentzugs für Ungarn im EU-Rat verwies der Minister auf die Möglichkeiten, die auf EU-Ebene diesbezüglich bestünden.

Mandl: EU-Parlament gibt Richtung vor

Einen solchen Entzug hatten zuletzt nämlich 63 Abgeordnete des EU-Parlaments in einem Brief an die EU-Institutionsspitzen gefordert - unter den Unterzeichnern ist der ÖVP-Mandatar Lukas Mandl. Der sieht das nicht als Widerspruch zur Zurückhaltung der ÖVP in Wien: "Ich erwarte ja, dass Österreichs Regierung mit unseren Nachbarländern spricht." Das EU-Parlament aber könne und müsse da härter vorgehen: "Orban hat nur dem eigenen Ego gedient, nicht aber der EU." Dass die EU-Kommission jetzt ein Boykott einleite, sei genau der Weg, "den das Parlament mit seinen Initiativen vorgezeichnet hat."

Brandstätter: "EU-Verfahren gegen Ungarn ist der Weg"

Noch deutlicher wird der EU-Abgeordnete der Neos, Helmut Brandstätter: Das EU-Verfahren. das Ungarn das Stimmrecht entziehe, sei der Weg, um Orbans Regierung in die Schranken zu weisen: "Es geht um die Verteidigung des Rechtsstaates". Dass die EU-Kommission jetzt Ungarns Ratsvorsitz boykottiert, hält er trotzdem für eine notwendige Maßnahme: "Man muss auch ein politisches Spiel spielen, klar machen, dass jemand, der Europa ablehnt, nicht für Europa sprechen kann." Auch die Ungarn sollten sehen, wie sehr Orban in Europa isoliert sei. 

Im Büro von Außenminister Schallenberg nachgefragt, heißt es, es handle sich dabei um "die Meinung des Abgeordneten Mandl" im Rahmen des freien Mandats im EU-Parlament. Das sei aber nicht "Position der Bundesregierung".

Zu Finanzminister Brunner sieht man keinen Widerspruch: Natürlich sei der Unmut der Kommission über die unabgesprochenen Alleingänge Orbáns verständlich. "Einen Boykott halten wir aber für die falsche Lösung." 

"Kirche im Dorf lassen"

Schallenberg sagte vergangene Woche, dass Orbán "nicht im Namen der Europäischen Union" gesprochen habe. Orbán habe eine Reise "auf eigene Kosten" unternommen, "die nur Ungarn betrifft und sonst niemanden", so Schallenberg

Und: Orbán werde sich für seine ohne EU-Mandat erfolgten Reisen "erklären" müssen, betonte der Außenminister. "Wir sollten klare Linien ziehen, aber auch die Kirche im Dorf lassen."

Rauch für Boykott

Gegen Mittag erklärte dann der grüne Gesundheits- und Sozialminister Johannes Rauch, dass er sich dem Boykott anschließen werde. Es sei "inakzeptabel", dass Orbán nach Moskau reiste. "Ich habe für mich entschieden, zu diesen Räten (Ministerräten unter ungarischer Präsidentschaft, Anm.) nicht zu fahren", stellte Rauch klar. 

Dies sei seine "persönliche politische Entscheidung", sagte er auf die Frage, ob dieses Vorgehen innerhalb der Regierung abgestimmt ist. "Man muss klare Kante zeigen", denn es sei durch Orbán "eine Grenze überschritten worden".

Zur Frage, ob man Ungarn das Stimmrecht im Rat der EU entziehen sollte, wie es 63 EU-Abgeordnete in einem Brief an die EU-Institutionsspitzen gefordert hatten, sagte Rauch, dies müsse in Europa entschieden werden. Es gehe um eine "konsequente Haltung Ungarn gegenüber" - eine solche sei nötig, ließ er aber Sympathien für diese Idee durchklingen.

Gewessler heute in Budapest

Zeitgleich befindet sich Klimaministerin Leonore Gewessler heute beim informellen Rat der Energieminister in Budapest. "In Zeiten der Energiekrise hat es absolute Priorität, die Gespräche voranzutreiben", sagt eine Sprecherin. 

Die Ministerium sei gestern bereits in Budapest angereist gewesen, als der Aufruf kam. Betont wird gleichzeitig: "Die informellen Räte sind eine gute Gelegenheit, sich sachlich auszutauschen." 

Grüne nehmen nicht teil

Im Büro von Vizekanzler Werner Kogler hieß es am Vormittag zunächst, man wisse nichts von einer "generellen Linie" der Bundesregierung. Es sei eine Entscheidung der Minister, ob sie zu den EU-Räten fahren wollen oder nicht. Rauch habe klar gesagt, warum er das nicht tue. 

Später am Tag legte man sich aber doch noch fest: "Die Grünen Ministerinnen und Minister werden die informellen Treffen in Ungarn nicht wahrnehmen."

Nehammer: "Nicht reden ist die schlechteste aller Lösungen"

Am frühen Nachmittag meldete sich dann Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) zu Wort: "Ich halte nichts davon, EU-Räte der Regierungschefs oder Fachminister zu boykottieren." 

Und weiter: "Orbán hat einen Tabubruch begangen, über den man diskutieren muss. Wir sollten dies aber nicht mit einem weiteren Tabubruch, nämlich einem Boykott beantworten." Man müsse Orbán mit seiner unabgestimmten Vorgangsweise konfrontieren. "Innerhalb der EU nicht mehr miteinander zu reden ist die schlechteste aller Lösungen."

Österreichische Ministerinnen und Minister werden daher auch weiterhin an Sitzungen und Treffen der EU-Ratspräsidentschaft teilnehmen, so der Bundeskanzler. Das Statement gelte für alle ÖVP-Ministerinnen und -Minister, präzisierte eine Sprecherin des Kanzlers.

Kickl macht Stimmung gegen von der Leyen

Unterdessen fordert FPÖ-Chef Herbert Kickl in einer Aussendung Bundeskanzler Nehammer auf, den angekündigten Boykott zu verurteilen und gegen die Wiederwahl von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen zu stimmen. 

Die Wiederwahl von der Leyens steht am Donnerstag in Straßburg auf der Tagesordnung. Die deutsche CDU-Politikerin braucht dafür eine absolute Mehrheit von mindestens 361 der 720 Abgeordneten.

"Von der Leyen ist Sinnbild und negative Symbolfigur der undemokratischen Abgehobenheit der EU-Bürokratie, eines zutiefst undemokratischen Selbstverständnisses und einer Abkoppelung der selbsternannten Eliten von den Völkern Europas", wetterte Kickl. Die EU-Kommission sei "nichts anderes als die Angestellte der EU-Mitgliedsstaaten, aber sicher nicht ihr Chef".