Österreich - doch ein Land des politischen Protests?
Von Elisabeth Hofer
Während in Paris die Pflastersteine flogen und in Berlin Häuser besetzt wurden galt Österreicher - was "unkonventionelle Partizipationsformen" angeht - lange als verschlafen. Als Gründe dafür wurden die funktionierende Sozialpartnerschaft und die stabilen Regierungsmehrheiten angeführt.
Doch im internationalen Vergleich dürften die Österreicher weniger protestfaul sein als angenommen - das zeigt eine neue Studie. Dafür anlysierte Politikwissenschafter Martin Dolezal APA-Meldungen aus den Jahren 1998 bis 2016. Demnach ist die Protestintensität in Österreich über die Jahre gleich geblieben und liegt im internationalen Durchschnitt.
Ausreißer nach oben war das Jahr 2000 mit den Protesten gegen die erste schwarz-blaue Regierung, einen zweiten Peak gab es beim Beschluss der Pensionsreform 2003.
Thematisch fanden in den untersuchten Jahren die meisten Protestereignisse zum Thema Umwelt statt, gefolgt von gesellschaftspolitischen Themen und Wirtschaft.
Mit dem KURIER sprach Dolezal, der derzeit am Institut für Höhere Studien (IHS) und der Uni Salzburg tätig ist, über Fridays for Future, die Frage nach einer österreichischen Protestkultur und die Anwendung von Gewalt im Zuge von Protesten.
Herr Dolezal, zuerst etwas ganz Grundsätzliches: Wie definieren Sie Protest?
Unter „politischen Protest“ fasst die Politikwissenschaft bzw. die Soziologie alle „unkonventionellen“ Formen politischer Partizipation zusammen. Also alle Formen jenseits des Wählens, Spendens, der Mitgliedschaft in einer Partei etc. Der Begriff „unkonventionell“ gilt eher als veraltet, da heutzutage ein großer Bevölkerungsanteil diese Partizipationsformen nutzt, weshalb sie nicht mehr „unkonventionell“ sind.
Welches Ziel verfolgen Protestierende?
Das Gewinnen von Aufmerksamkeit ist immer das primäre Ziel von politischem Protest - abgesehen von Aktionen, die sich direkt gegen den Gegner richten, wie etwa Streiks. Der Umgang damit ist nicht zuletzt eine Frage, der sich Medien stellen müssen, da diese ja der primäre Ansprechpartner sind.
Was haben Sie im Zuge Ihrer Studie über Protest in Österreich herausgefunden?
Es zeichnet sich kein quantitativer Rückgang bei den Protestereignissen ab. Vieles, was in den Medien als dramatische und gefährliche Entwicklung, Stichwort: Politikverdrossenheit, tituliert wird, hat keine empirische Basis. Es gibt in der Bevölkerung immer noch ein hohes Interesse an Politik - auch wenn es für viele nicht das Wichtigste im Leben ist.
Gibt es laut Ihren Forschungserkenntnissen also so etwas wie eine österreichische Protestkultur?
Die Frage, ob es eine österreichische Protestkultur gibt oder nicht, stellt sich für die Forschung nicht. Wenn, dann lautet die Frage, wie diese „Protestkultur“ aussieht. Generell würde ich Österreich – im Gegensatz zu älteren Studien – als durchschnittliches Land einstufen, wenn es um das Ausmaß der „unkonventionellen Partizipation“ geht, also nicht mehr als Land mit extrem wenig Protestaktivitäten. Verglichen mit Deutschland ist das Ausmaß geringer und im Großen und Ganzen auch von „weicheren“ Protestformen geprägt. Gewalttätige Demonstrationen etc. sind in Österreich ein extrem seltenes Ereignis.
Welchen Einfluss haben die jeweils gewählten Protestmethoden darauf, ob eine Protestaktion als legitim wahrgenommen wird, oder nicht?
Das Spannungsverhältnis von Legalität und Legitimität ist nicht einfach zu beantworten, da es zum Beispiel verboten ist, im Besucherbereich des Parlaments zu protestieren – auch wenn die dabei angewandte Form (z.B. Flugzettel werfen oder Parolen rufen) an sich harmlos ist. Der von Fridays for Future gewählte Begriff „Streik“ ist ein wenig missverständlich, das es sich in erster Linie um Demonstrationen handelt. In der Forschung würden wir eher sagen, dass die Schüler den Unterricht „boykottieren“ und sich mittels Demonstrationen an die Öffentlichkeit wenden. Normalerweise würde man „Streik“ nur für Arbeitnehmer verwenden. Generell denke ich, dass Regelüberschreitungen, wie z.B. das Blockieren von Straßen oder von Eingängen wie zuletzt bei der Automobilmesse in Frankfurt, von mehr Menschen toleriert werden als in früheren Zeiten, nicht aber gewalttätige Aktionsformen. Die gewählte Form des Protests hängt natürlich auch von den Unterschieden der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Protestierenden ab.
Gibt es Beispiele aus der letzten Zeit, wo Protest gut funktioniert hat, und wo er Grenzen überschritten hat?
Im Bereich der Klimaproteste gab es in Wien Ende Mai Straßenblockaden durch Gruppen wie „Ende Geländewagen“ und „Extinction Rebellion“. Verglichen mit den Schülerprotesten wurden also bewusst konfrontativere Mittel gewählt, die sofort für eine größere mediale Aufmerksamkeit gesorgt haben.
Martin Dolezal ist Senior Scientist am Fachbereich Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Salzburg sowie Fellow am Institut für Höhere Studien (IHS) in Wien. Von 2009 bis 2015 war er Universitätsassistent am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien und arbeitete im Supply-Side-Team der Austrian National Election Study (AUTNES), der österreichischen nationalen Wahlstudie. In seiner Forschung befasst sich Dolezal vor allem mit Fragen der politischen Partizipation und des Parteienwettbewerbs. Seit 2015 leitet er ein FWF-Projekt zu politischem Protest in Österreich.