Neos-Chefin: "ÖVP macht der FPÖ die Räuberleiter"
Von Johanna Hager
„Angstfrei“-, "frech sein“-, "fesch sein“-Plakate weisen den Weg zur Freiluft-Mitgliederversammlung der Neos. Dass sie dem Herbert-Grönemeyer-Song "Angstfrei“ entstammen, wird später erst hörbar sein.
Rund 300 Neos-Mitglieder kommen an diesem Juni-Sonntag, um über den Leitantrag "Taten für ein neues Österreich" abzustimmen. Über die Spitze der Partei wird nicht abgestimmt. Der Bundesvorstand wird alle drei Jahre - und dem gemäß 2024 gewählt.
Unter weißem Zeltdach macht der pinke Wiener Stadtrat Christoph Wiederkehr in Wien-Ottakring den Anfang an diesem Sonntag. Kritisiert die ÖVP, namentlich Niederösterreichs Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, ehe er dem neuen SPÖ-Chef Andreas Babler – Bruno Kreisky zitierend – aufgrund seiner EU-Ansagen ausrichtet: "Herr Babler, lernen Sie Geschichte.“ Die EU sei "das größte Friedensprojekt“, mahnt Wiederkehr, der in Wien mit der SPÖ regiert, ein. Dann führt Wiederkehr aus, was in der Wiener Stadtregierung insbesondere in punkto Bildung vorangebracht wurde und werden soll.
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Wie wichtig Europa den Neos ist, das soll, so Neos-Generalsekretär Douglas Hoyos, auch ein Interview mit Paul Lendvai, geführt vom außenpolitischen Sprecher der Neos, Helmut Brandstätter, eingespielt auf Videowall, darlegen.
Lendvai analysiert Ungarns Regierungschef Viktor Orbán: "Es gibt kein Land der Welt, in dem der Gesundheitsminister gleichzeitig Innenminister ist“, beschreibt er die Zustände in Ungarn. "Es schaut so aus wie eine Demokratie – ist aber keine. Es ist auch noch keine Diktatur, aber die Menschen haben keine Chance, dass ihre Stimme Gehör findet.“
Gehör geschenkt wird dann über knapp 60 Minuten Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger. Entriert von einem Kurzfilm, der getragen wird von dem Grönemeyer-Song "Angstfrei“.
„Alles wird gut“
Vor Jahren haben die Neos "Mut“ plakatiert, erzählt die Neos-Chefin. Der Wunsch nach "alles wird gut“ sei groß und naiv zugleich, schickt sie voraus – und müsse doch gleichzeitig der Anspruch der Politik sein. Die multiplen Krisen verlangten, wenn schon nicht mutig, so doch "zumindest angstfrei“ zu sein, so Meinl-Reisinger.
Ob Finanz-, Staatsschulden-, Migrations-, Energie-, Sicherheits- oder Klimakrise: Sie alle wiegten schwer, doch am schwersten wiege die Vertrauenskrise. "Wer nicht strampelt, der klebt fest“, zitiert nun Meinl-Reisinger Grönemeyer. Sie mahnt Mündigkeit und Wachsamkeit ein, unter Bezugnahme auf Lendvais Worte.
Es seien – ob in Ungarn oder Österreich – "stete antidemokratische Tropfen, die fallen und das Fundament der Demokratie aushöhlen“.
„Selbstradikalisierung der ÖVP“
Die ÖVP verheddere sich "in ihrem Klientelismus. Die ÖVP macht der FPÖ die Räuberleiter, wenn es um die Herdprämie geht.“ Sie habe nicht Angst "vor dem reaktionären Gedankengut der FPÖ, da weiß ich, was ich krieg“, so Meinl-Reisinger. Sie fürchte sich viel mehr – und während sie das sagt, wird sie lauter – vor der "Selbstradikalisierung der ÖVP“. Ein Satz der ehemaligen ÖVP-Politikerin Meinl-Reisinger, der von aufbrausendem Applaus quittiert wird.
Nach Wiederkehr und Hoyos betont auch die Neos-Chefin, dass sie Österreichs Schengen-Veto aufs Schärfste verurteile. Nach ÖVP und FPÖ nimmt sie auch die SPÖ in die Mangel. "Ohne Häme“ will sie ihre Kritik verstanden wissen.
„Rat- und Planlosigkeit der SPÖ“
Die Sozialdemokraten seien von "Rat- und Planlosigkeit“ erfasst, eine klare Haltung zur Ukraine und auch zum Marxismus seien dringend notwendig.
ÖVP wie SPÖ, so Meinl-Reisinger, hätten seit der Finanzkrise "die Menschen schlicht und einfach im Stich gelassen“ und "die Mitte, die Menschen verraten“. An eben diese richtet sich Beate Meinl-Reisinger fortlaufend und skizziert immer und immer wieder in ihrer Rede, dass Viktor Orbán wie FPÖ-Chef Herbert Kickl eine "illiberale Demokratie“ anstrebten, die es zu verhindern gelte.
Insbesondere angesichts der nächsten Nationalratswahl, denn, so Meinl-Reisinger: "Die nächste Regierung bleibt bis zum Ende des Jahrzehnts im Amt.“
2030 fehlten Österreich 80.000 Pflegekräfte, gehe ein Drittel der Lehrer in Pension und stiegen die Pensionszuschüsse von 9,5 Milliarden auf 20 Milliarden Euro. Es gebe kein "Zurück zur Normalität“ – Österreich brauche "eine Zukunft frei von Angst“.
„Kickl’sche Allmachtsfantasien“
Die Neos begreifen sich, so deren Parteichefin, als "Gegenmodell zum alten Parteiensystem und ganz bestimmt zu den Kickl’schen Allmachtsfantasien“. Man wolle das "Aufstiegsversprechen“ erneuern, dass Leistung lohnt und belohnt wird – und das in einer Zeit, da Österreich drohe "abzusandeln“.
Zwischen abgehoben und abgesandelt
Nach knapp einer Stunde schließt Meinl-Reisinger mit einem Appell an und in die eigenen Reihen, der mit Standing Ovations quittiert wird. "Abgehobenheit und Selbstgefälligkeit haben noch nie funktioniert“, ruft sie förmlich ihren Mitgliedern zu, während sie nicht mehr am Pult steht, sondern auf der Bühne auf und ab geht.
Die Mitglieder müssten "laufen, laufen, laufen“ und sich engagieren. "Demokratie stirbt nicht nur in der Dunkelheit, sondern auch in der Stille“, so die pinke Parteichefin, die davon ausgeht, dass "viele wollen, dass wir Verantwortung übernehmen. Die anderen Parteien wollen das nicht. ÖVP, SPÖ, FPÖ und Grünen gehen wir wahnsinnig auf die Nerven.“ Und das sei gut so.