"Österreicher sind zu sehr mit sich beschäftigt"
KURIER: Wie ist das politische Österreich-Bild in Ihrem Medium?
Joachim Riedl: Österreich kommt in der ZEIT leider keine sonderliche Bedeutung zu, die Zeiten, in denen Österreich als ökonomisches Musterland angesehen wurde, sind vorüber, auch weil Deutschland mittlerweile wieder ökonomisch muskulöser geworden ist. Aufgrund des gleichzeitigen Bundestags-Wahlkampfes wird der Nationalrats-Wahlkampf beinahe überhaupt nicht wahrgenommen. Am ehesten dient Österreich als abschreckendes Beispiel für eine große Koalition, die Deutschland nach dem 22. September drohen könnte. Dieses Modell stößt zumindest in der politischen Klasse auf wenig Gegenliebe, es steht für Stillstand, gegenseitige Lähmung und entscheidungsschwache Konturlosigkeit.
Cathrin Kahlweit: Im Wahlkampf verengt sich der Blick naturgemäß stärker auf die Parteien, ihre Programme und ihre Versprechen. Dabei ist es überraschend zu sehen, wie stark sich Debatte und Selbstwahrnehmung im Land auf die Phase nach dem Jahr 2000 fokussieren. Offenbar sind die Nachwirkungen des Tabubruchs und Experiments der schwarz-blauen Koalition psychologisch und politisch immer noch so prägend, dass sich Gesellschaft und Parteien bis heute daran abarbeiten, sich entweder (von sich selbst?) zu distanzieren oder aber den Status quo ante wiederherzustellen.
Meret Baumann: Österreich wird in der Schweiz allein schon wegen der Größe und der Topografie des Landes häufig als Vergleich herangezogen. In Fragen des Finanzplatzes und des Bankgeheimnisses galt Österreich lange Zeit als Verbündeter. Das politische System unterscheidet sich aber beträchtlich, ähnlich sind lediglich die Stabilität und der hohe soziale Frieden. Erstaunen und hohes Interesse lösen in der Schweiz die Korruptionsaffären und das Phänomen Frank Stronach aus.
Wie sehen Sie Österreich im Spiegel des europäischen Auslandes?
Cathrin Kahlweit: Das Österreich-Bild verliert seine Zuckrigkeit; Mozartkugel-Klischees und Fiaker-Seligkeit weichen einer realeren Wahrnehmung des Landes. Ökonomische Stärken und auch politische Schwächen werden vermehrt gesehen. Das hat sicher damit zu tun, dass mit der Globalisierung auch der internationale Tourismus zunimmt und Österreich als Reise- und Urlaubsland an Bedeutung verliert. Zum anderen hat die Weltfinanzkrise dafür gesorgt, dass die Wirtschaftslage aller europäischen Länder ins Visier genommen wird, wobei Österreich gut abschneidet. Bei der Krisenbewältigung im europäischen Kontext hingegen gab es zuletzt Fehler und Friktionen (zum Beispiel der Streit um das Bankgeheimnis), parallel nimmt die außenpolitische Bedeutung (zum Beispiel Abzug vom Golan) deutlich ab.
Meret Baumann: Österreichs Politik und die sozialpartnerschaftliche Struktur garantieren hohe Stabilität, was gerade in den letzten Krisenjahren von Vorteil war. Es wird hier vergleichsweise auf sehr hohem Niveau über die Politik geklagt. Allerdings haben diese Verhältnisse auch dazu beigetragen, dass man in alten Denkmustern verharrt, es sind weder Visionen noch Aufbruchsstimmung spürbar. In welche Richtung sich das Land entwickeln soll, ist abgesehen von der eher vagen Forderung nach einer Entfesselung der Wirtschaft im Wahlkampf nicht thematisiert worden.
Wie ticken die Österreicher Ihrer Meinung nach?
Cathrin Kahlweit: Das Land ist so klein und liegt so sehr inmitten eines größeren Europa, dass man meinen sollte, der Blick über den Tellerrand oder sogar die Orientierung über den Tellerrand hinaus wäre eine naturgegebene Sache. Nach meinem Eindruck aber sind die Österreicher (und natürlich ist das eine grobe Verallgemeinerung) zu sehr mit sich beschäftigt. Bauchnabelschau und die Befassung mit der eigenen Befindlichkeit nehmen einen großen Raum ein, die Neugier auf Anderes oder Fremdes, aber auch die Neugier auf Neues ist begrenzt. Der Verlust historischer Größe ist bis heute nicht verarbeitet.
Meret Baumann: Wenn ich das wüsste! Nach erst einem halben Jahr im Land ist das schwierig zu beurteilen. Es gibt auch nicht den Österreicher, ein Wiener unterscheidet sich stark von einem Tiroler oder Niederösterreicher, ein Student von einem Pensionisten, eine junge berufstätige Mutter von einem Landwirten oder Unternehmer. Grundsätzlich sind sich die meisten bewusst, dass es ihnen in Österreich sehr gut geht und sie sich auf einen funktionierenden Staat verlassen könne. Trotzdem erstaunt mich immer wieder, wie schlecht über die politische Elite gesprochen wird. Daran haben die Korruptionsaffären sicherlich großen Anteil – mehr als Reformstau und fehlende Visionen.
Was sind die wichtigsten Unterschiede der Wahlkämpfe in Deutschland und in Österreich?
Cathrin Kahlweit: In Deutschland ist der Ton moderater, die Mitspieler sind zahlenmäßig geringer, die Ausgangslage ist klarer, die Lager sind eindeutiger. Das führt umgekehrt dazu, dass der Wahlkampf in Österreich häufiger untergriffig ist als in Deutschland. In Deutschland gibt es eine Hoffnung, dass sich möglichst wenig ändert, in Österreich meine ich eine Frustration darüber zu spüren, dass sich wahrscheinlich wenig ändern wird.
Meret Baumann: Es gibt keinen Lagerwahlkampf, über Koalitionsvorlieben wird ungern gesprochen. Die Differenzen zwischen den beiden größten Parteien wirken inszeniert. Im Wahlkampf streiten sich SPÖ und ÖVP kurz und sehr heftig, sie sagen aber zugleich offen, dass sie nach der Wahl zusammen weiterregieren wollen. Zudem erscheint mir hier die mediale Aufgeregtheit extrem. Die vielen TV-Auftritte der Spitzenkandidaten bringen zwar erstaunlich gute Quoten, Politik interessiert. Man verliert aber leicht den Überblick, wer wann was gesagt hat und leider ist Effekthascherei oft wichtiger als die Inhalte.
Stellen Sie eine ernsthafte Debatte über Zukunftsthemen fest? Ist die Wahrheit den Österreichern nicht zumutbar?
Cathrin Kahlweit: Nein, ich stelle eine ernsthafte Debatte über solche Themen nicht fest – aber anderswo wird sie ja auch kaum geführt. Fragen wie die Finanzierbarkeit des Rentensystems, die rasend schnell heraufziehende Klimakatastrophe, das ungerechte und ineffiziente Bildungssystem werden ja auch in Deutschland oder Frankreich, um nur zwei Beispiele zu nehmen, nicht wirklich diskutiert. Allerdings will es manchmal scheinen, als seien Veränderungen im strukturkonservativen Österreich mit seinen politischen Verkrustungen (siehe die absurde Debatte um das Lehrerdienstrecht) noch weniger möglich als anderswo.
Ist die Wahrheit den Österreichern nicht zuzumuten? Nun ja, in Deutschland haben die Grünen für mehr Verteilungsgerechtigkeit mehr Steuern von den Reichen gefordert. Auch deshalb liegen sie nun bei unter zehn Prozent. Niemand gibt gern ab, und niemand fängt gern mit Veränderungen bei sich selbst an.
Meret Baumann: Die ÖVP hat ja zu Recht versucht, diese Themen ins Spiel zu bringen. Leider allerdings wenig konsistent, es hat sich jeweils ein parteiinterner Streit entzündet und das Thema wurde wieder ad acta gelegt. Die SPÖ dagegen konzentrierte sich auf jahrzehntelang bewährte Kernaussagen und konnte der ÖVP zusehen, wie sie sich verzettelt. In der entscheidenden Bildungsfrage verharrt man in Grabenkämpfen. Die Oppositionsparteien haben wichtige Themen wie Korruption, Nachhaltigkeit, Liberalisierung, Bürokratieabbau, EU-Schuldenkrise etc. anzusprechen versucht, teilweise allerdings auf polemische Art und ohne überzeugende Angebote. Ich vermisse im Wahlkampf ernsthafte Debatten über die Folgen der Hypo-Krise, Österreichs außenpolitische Rolle, die Krise des Bildungssystems, die Sicherung der Pensionen. Die Wahrheit ist der Bevölkerung immer zumutbar, sie will nicht hinters Licht geführt werden. Oft vergessen Politiker, dass es sich um mündige, verantwortungsbewusste Bürger handelt, denen man durchaus vernünftige Entscheidungen zutrauen darf.
Joachim Riedl Geboren 1953 in Wien. Er ist Leiter des Wiener Büros der deutschen Wochenzeitung Die Zeit. Riedl ist neben seiner journalistischen Tätigkeit Schriftsteller, Publizist, Dokumentarfilmer und Ausstellungsgestalter.
Meret Baumann Geboren 1978, seit Februar 2013 Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) für Österreich und Ungarn in Wien. Sie arbeitet seit 2006 für die NZZ in der Außenpolitik-Redaktion.