Mitterlehner: "Regierung braucht bald eine Distanzierungsstelle"
Dienstag, kurz vor 19 Uhr, in der Thalia-Buchhandlung in Wien-Landstraße. Selbst in der weitläufigen, zweistöckigen Filiale muss man nicht lange suchen, um den Ort der Buchpräsentation von Reinhold Mitterlehner zu finden – denn der Andrang ist „heftig“, wie auch die Filialleiterin anmerkt.
Ihre Mitarbeiterinnen kämpfen gemeinsam mit einem Sicherheitsmann unermüdlich, aber auf verlorenem Posten darum, zumindest einen schmalen Durchgang in Richtung der kleinen Bühne freizuhalten, auf der der frühere ÖVP-Chef, Wirtschaftsminister und Vizekanzler gleich sprechen wird.
Auch alle Appelle an das Sicherheitsbewusstsein der altersmäßig bunt durchmischten Menge verhallen ungehört, länger als drei Minuten bleibt der Fluchtweg nicht frei. „Ich gehe hier sicher nicht weg“, betont etwa ein älterer Herr mit einem an die Brust gepressten Exemplar von „Haltung“.
Stellung beziehen
Haltung, das ist einerseits der Titel von Mitterlehners vergangene Woche erschienener politischer Biografie. Andererseits ist das dieser Tage aber auch Mitterlehners Mantra. Und Haltung zu bewahren, das bedeutet für ihn dieser Tage auch: öffentlich Stellung zu beziehen.
Gegen die zuwanderungsfeindliche Rhetorik und Politik der türkis-blauen Bundesregierung, für christlich-soziale Werte wie Hilfsbereitschaft gegenüber jenen, die sie brauchen. Ein schwieriges Unterfangen für ein früher führendes und nach wie vor einfaches Mitglied der Volkspartei. Stellt diese doch immerhin zum ersten Mal seit sehr langer Zeit den Regierungschef.
Doch der Preis dafür ist für Mitterlehner zu hoch, daran lässt er in seinem etwa 20-minütigen Eingangsstatement keinen Zweifel aufkommen. Als Beispiele nennt er sowohl die „Verstaatlichung der Flüchtlingsbetreuung“ als auch die Verbindungen der FPÖ mit den Identitären. Richtiggehend empört ist er über das „Ratten-Gedicht“, das den Braunauer FPÖ-Vizebürgermeister nun den Job kostete - laut Mitterlehner „Umvolkungswahnsinn“.
Wenn es so weitergehe, brauche die Regierung wohl bald eine „eigene Distanzierungsstelle“, schüttelt Sebastian Kurz‘ Vorgänger an der ÖVP-Spitze den Kopf.
Machtübernahme kein Thema
Apropos Sebastian Kurz: Die generalstabsmäßig geplante und bekanntermaßen erfolgreich umgesetzte Ablöse Mitterlehners durch den heutigen Kanzler erwähnt Mitterlehner in seiner Rede mit keinem Wort. In „Haltung“ hat er sein Ende als ÖVP-Chef immerhin mit einem ganzen Kapitel prominent gewürdigt, in dem er Kurz „Mobbing“ und „Intrigen“ vorwirft.
Nun richtet Mitterlehner den Blick in die Zukunft. „Jetzt haben wir die Debatte, die ich mit dem Buch auslösen wollte“, ist der Ex-Vizekanzler zufrieden: „Wo wollen wir hin? Wollen wir von einer offenen zu einer geschlossenen Gesellschaft werden? Darüber müssen wir reden.“
In der kurzen Fragerunde nach Mitterlehners Rede zeigt sich, dass die Zuhörer freilich nicht nur darüber reden wollen. Wer die „Hintermänner“ von Kurz‘ Machtübernahme waren, will einer wissen, ob Mitterlehner von Ex-Kanzler Christian Kern „unfair behandelt“ wurde, ein anderer.
Andere nehmen Mitterlehners Ball in ihren Fragen freilich auf. Und einer möchte überhaupt nur „Dank sagen, für den Einblick in das, was Ihnen und Österreich angetan wurde“. Am Ende stellen sich Dutzende Zuhörer geduldig für eine Signierung und ein Foto mit dem Autor an.
Heute, Mittwoch, Abend stellt Reinhold Mitterlehner sein Buch in Linz vor. Mit geringerem Andrang als in Wien ist in seinem Heimatbundesland wohl kaum zu rechnen.
Die Startauflage von „Haltung“ ist ja bereits ausverkauft – laut Auskunft des Verlags ausschließlich im "regulären Publikumsverlauf", Großabnehmer habe es keine gegeben. Womit die Verschwörungstheorie, wonach die ÖVP die Auflage aufgekauft hätte, um das Buch dem freien Markt zu entziehen, auch erledigt wäre.