Kindergärten kritisieren Bildungsreform
Von Ute Brühl Maria Kern
Die Bildungsreform setzt nicht nur in den Schulen, sondern auch in den Kindergärten an. Gut so, möchte man meinen. Endlich werden Kindergärten als Bildungseinrichtung wahrgenommen. Aber sind die Vorhaben auch realisierbar?
Vorgesehen ist z. B. ein zweites verpflichtendes Kindergartenjahr. Für Renate Berger, Leiterin des St. Nikolaus-Kindergartens Marienpfarre in Wien-Hernals, ist der Vorschlag unausgegoren: "Wir hätten hierfür gar keinen Platz." Selbst wenn es Kapazitäten gäbe: "Nach drei Monaten – so der Plan– können sie herausgenommen werden, falls sie keine Defizite haben. Das ist realitätsfern. Die Kinder brauchen Zeit, bis sie sich eingewöhnt haben. Dann sollen sie wieder weg?"
Dabei braucht die Arbeit mit den Jüngsten gerade das: Zeit. "Wir gehen heute viel mehr auf die Kinder ein. Ein Beispiel: Früher hat man im Winter das Thema Schnee vorbereitet, und alle Kinder damit ‚beglückt‘. Wenn wir heute merken, dass ein Kind sich z. B. für die Baustelle interessiert, gehen wir darauf ein."
Mehr Vorbereitungszeit nötig
Für diese Individualisierung sind Vor- und Nachbereitungsstunden nötig. Derzeit haben Wiener Kindergartenpädagoginnen fünf Stunden pro Woche: "Zu wenig. Eine Pädagogin ist für 25 Kinder zuständig. Wenn sie da noch einen Bildungskompass erstellen soll, in dem Stärken und Schwächen der Kinder dokumentiert werden, geht das nicht ohne zusätzliche Ressourcen", sagt Berger. Dabei gibt es in ihrem Haus schon eine Art Bildungskompass: Die "Mobilen Dienste" der St. Nikolausstiftung (Zusammenschluss der Wiener Pfarrkindergärten) aus klinischen Psychologen, Ergotherapeuten und Sonderpädagogen erstellen gemeinsam mit den Kindergärtnerinnen eine "Entwicklungeinschätzung." Berger: "Wir machen das für Vier- bis Fünfjährige, nicht für 3,5-Jährige, wie das geplant ist. Das ist zu früh. Jedes Kind hat nämlich sein Tempo. Ich wehre mich dagegen, schon Kleinste in ein Schema zu pressen." Für dieses Team zahlen die Eltern einen Beitrag von 30 Euro im Monat.
Unprofessionell
Bereits jetzt müssen Kindergärtnerinnen testen: Die Sprachstandsfeststellung muss bei jedem Kind 15 Monate vor Schuleintritt gemacht werden. Petra S.*, 44-jährige Pädagogin bei den Wiener Gemeindekindergärten, kritisiert: "Wir haben keine Zeit, diese so zu machen, wie vorgesehen. Das Kind soll über längere Zeit beobachtet werden. Doch wann soll ich das machen?", fragt sie.
Es fehle nicht nur an Zeit, sondern auch an der Kompetenz. "Selbst ich als Akademikerin tue mir schwer, die Vorgaben, wie diese Erhebung zu machen ist, zu verstehen", sagt die Spätberufene, die im zweiten Bildungsweg Kindergärtnerin wurde. "Ich weiß von Kolleginnen, dass sie die Fragebögen nach Gefühl ausfüllen. Professionalität sieht anders aus. Für den Test müsste man eigentlich eine Person freispielen."
Zeit und Wissen fehlen
Petra S. will nicht nur mehr Zeit: "Nötig ist eine gemeinsame Basisausbildung aller Pädagogen. Derzeit haben wir ein großes Bildungsgefälle: Kindergärtnerinnen aus BAKIPs (Bildungsanstalten für Kindergartenpädagogik) und Lehrerinnen aus Hochschulen. Da kann schwer ein Gespräch auf Augenhöhe stattfinden. Uns fehlt bei unserer Arbeit die wissenschaftliche Basis."
Besonders in Wien hätten die Pädagogen noch eine weitere Herausforderung: Viele Kinder, die zu Hause nicht deutsch sprechen: "Ich erkenne zwar oft, dass diese Kinder eine spezielle Förderung brauchen. Doch mir fehlt die Zeit sowie das nötige Wissen, wie man auf diese Kinder speziell eingeht."
*Name geändert
Bildungsexpertin Spiel: "Kostenneutral ist das nicht umsetzbar"
KURIER: Frau Professor, Kindergärtnerinnen sollen Bildungschecks machen und in einem Bildungskompass Stärken und Förderbedarf beobachten und dokumentieren. Eine gute Idee?
Christiane Spiel: Grundsätzlich halte ich den Kompetenzcheck und den Bildungskompass für eine gute Idee, weil Kindergärtnerinnen, Kinder und Eltern eingebunden werden. Man weiß dann etwa, was das Kind kann – und was Eltern tun können. Kostenneutral sind die Pläne aber
sicher nicht umsetzbar.
Kann eine 19-jährige BAKIP-Absolventin einen solchen Check durchführen?
Die Entscheidung für diesen Beruf fällt viel zu früh (mit 14) – und die Ausbildung hat nicht die entsprechende Tiefe. Wir müssten Kindergärtnerinnen akademisch ausbilden. Zumindest auf Bachelor-Niveau. Das würde den Beruf aufwerten, die Absolventen wären reifer, und es wäre noch klarer, dass die Kindergärten keine Aufbewahrungsstätten sind, sondern eine ganz wichtige Bildungseinrichtung.
Was kann man kurzfristig tun?
Experten müssen jetzt diese Kompetenzchecks entwickeln, dazu liegt ja schon einiges vor. Dann muss man die Kindergärtnerinnen darin schulen, wie sie diese Kompetenzchecks machen müssen. Und man muss begleitend evaluieren, ob die Tests funktionieren. Aber das Ganze wird nicht einfach zu realisieren sein. Die Situation in Kindergärten ist jetzt schon unheimlich belastend.
In Wiener Kindergärten haben 60 Prozent der Kinder nicht Deutsch als Muttersprache. Deutsch beibringen und alle Kinder auf die Schule vorbereiten – ist das nicht illusorisch?
Wir müssten dort, wo es Brennpunkte gibt, mehr Mittel hingeben. Es sollte nicht nur Geld pro Kind geben, sondern berücksichtigt werden, wie viele Kinder nicht Deutsch sprechen bzw. wie viele Kinder schlechter gebildete Eltern haben. Die Kindergärten könnten das zusätzliche Geld zum Beispiel für Sprachlehrer oder Psychologen verwenden. Dieser Vorschlag wurde aber leider nicht in die Bildungsreform aufgenommen.
Kompetenzcheck und Bildungskompass
Was sich ändert
Kindergärtnerinnen sollen jedes Kind im Alter von 3,5 Jahren einem Kompetenzcheck (Sprache, Entwicklung) unterziehen. Sie sollen auch Stärken und Schwächen laufend beobachten und in einem Bildungskompass dokumentieren. Und alle Kinder sollen künftig ab vier Jahren einen Kindergarten besuchen.
Was bleibt
Der Betreuungsschlüssel wird zum Leidwesen der Pädagoginnen nicht verändert. Derzeit betreut eine Kindergärtnerin laut OECD im Schnitt 14 Kinder, in Schweden sind es 6, in Deutschland 10.