Gysi: "Die Ostdeutschen fühlen sich als Verlierer der Geschichte"
Von Ida Metzger
Gregor Gysi verkörpert die Ambivalenz des Umbruchs von 1989 wie kein anderer: Viele Jahre war er Anwalt von Bürgerrechtlern in der DDR. 1989 wurde er überraschend letzter SED-Chef (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands in der DDR) und verhandelte die Einheit Deutschlands mit. Später wurde er Parteichef der Linken. Im Interview erzählt er von den bewegenden Tagen und warum Ost- und Westdeutschland so schwer zusammenwachsen.
KURIER: Herr Gysi, als der Mauerbau 1961 begann, konnten Sie sich nicht vorstellen, dass die Mauer länger als zwei Jahre stehen wird. Wenige Tage vor dem Mauerfall konnten Sie sich nicht vorstellen, dass das jemals passieren wird. Zwei Mal wurden Sie von der Geschichte belehrt ...
Gregor Gysi: Stimmt, ich habe mich zwei Mal geirrt – und ich gebe es auch noch zu. Wer macht das in der Politik sonst schon? (lacht)
Warum waren Sie 1989 pessimistisch?
Dass das Reiserecht nach den Ereignissen im Sommer 1989 kommen musste, war mir klar. Ich hatte im DDR-Fernsehen auch gefordert, kein halbherziges, sondern ein reales Reiserecht einzuführen. Aber ich dachte, die Mauer kann ja nur mit Zustimmung der Sowjetunion fallen. Die Sowjetunion sah ich noch nicht so weit. Als ich mit Michail Gorbatschow im Dezember 1989 telefonierte, sagte er zu mir: Wenn ich die SED aufgebe, gebe ich die DDR auf und damit auch die Sowjetunion. Das war zwar ein bisschen viel Verantwortung auf den Schultern eines kleinen Berliner Advokaten wie mir, aber das war damals seine Auffassung, obwohl die Mauer schon gefallen war. Als ich dann am 1. Februar 1990 bei ihm war, hatte er seine Meinung geändert. Gorbatschow war einverstanden mit der Währungsunion. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass alles auf die deutsche Einheit zusteuert.
Den Mauerfall haben Sie angeblich fast verschlafen.
Ja, ich lag im Bett, als mich meine Lebensgefährtin anrief und meinte: „Gregor, die Mauer ist gefallen.“ Darauf ich: „Mauerfall? Das ist jetzt nicht der Zeitpunkt für Scherze“. Sie meinte, schalte den Fernseher ein. Da sah ich, wie alle Leute in den Westen strömten. Meine Lebensgefährtin wollte mich überreden, dass ich mit ihr über die Grenze gehe, was ich nicht wollte.
Warum?
Das hatte drei Gründe: Das war der Anfang vom Ende der DDR - darüber musste ich noch nachdenken. Aber das Entscheidende war, dass ich nicht diesen Druck hatte wie die anderen DDR-Bürger. Denn meine erste Auslandsreise in den Westen hatte ich schon 1988 nach Paris. Der dritte Grund war sehr banal: Ich hatte am nächsten Tag um acht Uhr in der Früh als Verteidiger einen Mord-Prozess zu verhandeln, und ich kenne die deutsche Justiz, die fällt nicht aus wegen historischer Ereignisse. So war es auch. Pünktlich um acht Uhr begann die Verhandlung. Die Schöffen wirkten übermüdet, aber es waren alle da.
Es gab Intellektuelle, die keine deutsche Einheit wollten. Welche Lösung haben Sie in diesen Tagen präferiert?
Bis zum Februar 1990, als ich wusste, dass die Sowjetunion die DDR aufgeben wird, hätte ich mir auch eine grundlegend reformierte – mit Reisefreiheit und vielen anderen demokratischen Grundrechten ausgestattete – DDR vorstellen können. Danach ging es um eine gerechtere, gleichberechtigte Vereinigung.
Sie waren politisch gesehen ein Quereinsteiger, der zu einem historischen, schwierigen Zeitpunkt im Dezember 1989 SED-Parteichef wurde. Wie haben Sie diese Aufgabe gestemmt?
Es reizte mich schon immer, Probleme zu lösen – und deshalb stimmte ich dem Amt wohl zu. Die SED interessierte mich besonders, als es ihr zu Recht – aber wie ich fürchtete eben doch übertrieben – an den Kragen ging.
Damals entlud sich bei DDR-Bürgern viel Wut. Der Zorn traf auch Sie.
Ja, und ich verstand auch, dass viele Menschen wütend waren, weil sie glaubten, dass ich als SED-Vorsitzender zu den Bremsern und Blockierern ihres Fortschritts gehören könnte. Einmal begegnete ich drei oder vier Krankenschwestern, die mich davor warnten, Lügen über die Arbeitslosigkeit durch die kommende Einheit zu verbreiten. Ich wisse doch selbst, dass das nicht stimme. Diese Frauen hätte ich gerne zwei Jahre später noch einmal getroffen. Trotzdem: Ich war kurz eher beliebt, wurde dann von vielen zutiefst abgelehnt und habe mir inzwischen bei einer Mehrheit eine beachtliche Akzeptanz erarbeitet.
Sie wurden bei Veranstaltungen von Bürgern beschimpft und bespuckt. Wie gingen Sie als SED-Chef mit solchen wütenden Reaktionen um?
Ich habe mich immer bemüht, die Fassung zu bewahren und in Bürgergesprächen nicht selten bei solchen Menschen das Gegenteil erreicht. Die Menschen im Osten hatten sehr große Sehnsucht nach Freiheit und westlicher Demokratie. Aber kurze Zeit später entstanden auch Enttäuschung und Wut auf die neuen, nicht immer leicht zu meisternden Verhältnisse.
Sie kritisieren seit vielen Jahren, dass nicht der Neffe und die reiche Tante zusammengezogen sind, sondern der Neffe bei der reichen Tante eingezogen ist. Sie wollten eine echte Vereinigung von BRD und DDR und keinen Beitritt der DDR. Ist das 30 Jahre später noch von Relevanz?
Man unterschätzt, wie sich die Ansichten der Eltern auf die Kinder übertragen. Die Deutschen aus der DDR hatten am 3. Oktober 1990 das Gefühl, dass sie Deutsche zweiter und nicht erster Klasse wurden. Das eigentliche Problem war, dass die Bundesregierung damals nicht aufhören konnte zu siegen. Es gab auf westlicher Seite eine gewisse Arroganz und wenig Bereitschaft, sinnvolle positive Seiten aus der DDR im wiedervereinten Deutschland zu bewahren. Hätten sie sechs davon übernommen, wäre das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen gestiegen. Sie hätten sich gesagt: Wir hatten zwar eine Diktatur, aber sechs Gegebenheiten waren so gut, dass sie jetzt in ganz Deutschland gelten. Die Westdeutschen hätten erlebt, dass sich ihre Lebensqualität in diesen sechs Fragen durch den Osten erhöht hätte. Das ist ihnen nicht gegönnt worden und hat Konsequenzen bis heute.
Welche denn?
Dass im Westen der Osten eher als Belastung empfunden wird, materiell und politisch. Im Osten wird durch mangelndes Selbstbewusstsein die AfD stärker gewählt als im Westen.
Ein Grund, warum der Rechtsradikalismus in Sachsen ausgeprägt ist?
Ich würde das nicht an einem Bundesland festmachen. Ostberlin war anders als Chemnitz oder Dresden. In Ostberlin gab es viele Touristen, die per Tagesvisum zu uns kamen. Dadurch kamen die Menschen mit anderen Kulturen viel mehr in Kontakt. Das galt auch für Leipzig. Aber die anderen hatten kaum eine Chance dazu. Die Ostdeutschen fühlen sich insgesamt als Verlierer der Geschichte. Nach dem Krieg hatten sie die sowjetische und nicht die westliche Besatzung. Nach 1990 trat eine Massenarbeitslosigkeit ein, die man in der DDR nicht kannte. Entlassungen waren dort eine absolute Rarität. Es gab nicht einmal eine Arbeitslosenversicherung. Solche Bedingungen fallen einem nicht auf, wenn sie selbstverständlich existieren, sondern erst dann, wenn es sie nicht mehr gibt. Die Ostdeutschen fühlten sich durch die Art der Einheit gedemütigt. Die historischen Gebäude waren wichtiger als die Menschen.
Inwiefern?
Alles wurde schön saniert, aber wie es dem Arbeitslosen ging, der schon vier Jahre ohne Job war, interessierte viel zu wenig. Im Osten sind die sozialen Ängste deshalb doppelt so groß. Hinzu kam: Die Gleichstellung der Geschlechter war in der DDR deutlich weiterentwickelt als in der Bundesrepublik. Der erste Ministerpräsident von Sachsen, Kurt Biedenkopf, der aus dem Westen kam, kündigte aber an, man muss die Frauenerwerbstätigkeit strukturell wieder normalisieren, das heißt auf Westniveau bringen. Das tat weh. Die AfD verbreitet die Überzeugung: Erst hat euch die Einheit die Jobs gekostet, jetzt nehmen euch die Flüchtlinge die Arbeit weg. Das ist zwar falsch, wirkt aber.
Hat sich demnach die Wut der Ostdeutschen aus der Wende- und Nachwendezeit bis heute erhalten? Diese Erklärung passt nicht zu dem Trend, dass rechtspopulistische Parteien in ganz Europa erfolgreich sind.
Die Menschen sind überall verunsichert, weil die Welt nicht mehr überschaubar ist. Politik und Medien scheitern daran, die Komplexität der globalisierten Welt verständlich zu machen. Wer soll denn heute noch verstehen, welches Interesse der Iran und Saudi-Arabien an Syrien haben? Wenn niemand mehr die Gesamtstrukturen durchschaut, haben die rechten Populisten leichtes Spiel, der Ahnungslosigkeit mit einfachen Antworten zu begegnen. Sie sagen den Menschen, dass nur das eigene Land zählt. Es ist ihr Ziel, die Früchte der Weltwirtschaft ins eigene Land zu holen – und die Lasten den anderen Ländern aufzubürden. Dieser Trend zum nationalen Egoismus hat mit Trump einen Höhepunkt erreicht.
Wenn Sie heute durch Berlin fahren. Denken Sie an gewissen Plätzen noch an die Mauer?
Eher selten. Ich habe festgestellt, dass das für meine 23-jährige Tochter nicht nachvollziehbar ist. Sie glaubt, ich rede vom Mittelalter.