Gartlehner widerspricht Kurz: "Sehe gute Ausgangslage nicht"
Getestet, geimpft oder genesen: Ab 19. Mai sollen (fast) alle Branchen mit Sicherheitskonzepten in Österreich wieder öffnen dürfen. Aber wird das Licht am Ende des Tunnels wirklich "heller", wie Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Freitag bei der Pressekonferenz versprach? Sind die Voraussetzungen so gut?
In der Zeit bis zu den angestrebten Öffnungen "kann epidemiologisch noch sehr viel passieren", sagte der Experte für Evidenzbasierte Medizin von der Donau-Universität Krems, Gerald Gartlehner, zur APA und in der ZiB2. "Die gute Ausgangslage, von der der Kanzler gesprochen hat, und die wir nicht verspielen dürfen, sehe ich jetzt eigentlich nicht. Die müssen wir uns noch schaffen", so der Epidemiologe, der trotzdem "grundsätzlich optimistisch" in Richtung Sommer blickt.
Chance in Vorarlberg vertan?
In der Öffnungsmodellregion Vorarlberg haben sich die Zahlen trotz einer guten Ausgangslage und eines guten Gesamtkonzepts in wenigen Wochen "verdreifacht". Das zeige, wie aufmerksam man bleiben müsse. Es wäre "ganz sicher falsch" am 19. Mai "bedingungslos zu öffnen", wenn es Infektionsgeschehen und Intensivkapazitäten eigentlich nicht erlauben. Hier scheine die heute vorsichtigere Einschätzung Wiens "wesentlich realistischer", sagte Gartlehner. Im Osten Österreichs zeige der Lockdown aber mittlerweile auch einen starken Bremseffekt auf die Infektionszahlen.
Zudem kritisierte Gartlehner, dass in Vorarlberg nicht von Anfang an spezifische Daten zu den Auswirkungen der verschiedenen Öffnungen erhoben worden seien. "Eine vertane Chance", bilanzierte der Epidemiologe.
Kritischer Wert
In Regionen, wo vor dem 19. Mai etwa eine Sieben-Tages-Inzidenz von 100 überschritten wird, müsse man sehr genau alle pandemischen und anderen Parameter betrachten, und erst nach der Bewertung öffnen oder eben nicht. Gehe man mit Inzidenzen von 150 oder gar 200 in den Öffnungsmodus, "kann das sehr rasch sehr schief gehen", betonte Gartlehner, der einmahnt, die nächsten Wochen noch zum Drücken der Zahlen zu nützen. Leider sehe man in manchen Bundesländern bei den Infektionszahlen "eher eine Seitwärtsbewegung, als wirklich einen Effekt nach unten".
Zugutekommen werde uns heuer, dass voraussichtlich bis Ende Juni schon ein großer Teil der Bevölkerung zumindest ein Mal geimpft sein wird. Daher sollten Öffnungen leichter umsetzbar sein als noch 2020. All das stehe aber unter der Annahme, dass keine weitere gefährliche Variante hierzulande stark kursiert.
"Dann bleiben wir außen vor"
Dass nun ein "Grüner Pass" für Geimpfte, Genesene und Getestete als Eintrittsvoraussetzung für viele der angekündigten Lockerungsschritte, wie die Teilnahme an Kultur- oder Sportveranstaltungen gelten soll, sei "grundsätzlich eine gute Sache". Er gehe mit der Position der Bioethikkommission d'accord, dass es hier nicht um das Zugestehen von Privilegien, sondern um die Rückgabe der Grundrechte geht. "Stellt jemand keine wesentliche Infektionsgefahr dar, dann darf man ihm die Grundrechte nicht nehmen."
Außerdem mache es aus ressourcentechnisch-pragmatischen Gründen keinen Sinn, Geimpfte oder Genesene vor einem Frisörbesuch zu testen, sagte Gartlehner. Bezüglich dieses "Grünen Passes" habe sich auch europaweit eine Dynamik entwickelt, "wo wir als Österreich einfach mit müssen. Wenn wir das nicht auch machen, dann bleiben wir außen vor - und die Österreicher zuhause", spielt der Experte auf die kommende Urlaubssaison an.
Ab 19. Mai sollen auch ausländische Gäste hierzulande wieder willkommen sein, hieß es bei der Pressekonferenz am Nachmittag. Eine Einreise ohne "Grünen Pass" sollte aber dann nur möglich sein, wenn "Quarantäne wirklich auch rigoros durchgesetzt wird". Gerade in Großbritannien sehe man, dass es etwa große Probleme mit Rückkehrern aus Indien gebe, wo derzeit eine große Covid-19-Welle durchläuft, betonte Gartlehner. Dagegen müsse sich Österreich auch zu dem Preis schützen, dass vielleicht weniger Touristen kommen werden. "Hier müssen wir auch vom letzten Jahr lernen."