Politik/Inland

Franz Vranitzky: "Wir dürfen nicht nur die Partei der Pensionisten sein"

KURIER: Herr Doktor Vranitzky, aus dem Blickwinkel eines langjährigen Regierungschefs, wie sehen Sie den inhaltlichen und atmosphärischen Start der neuen Regierung?

Franz Vranitzky: Mit dem Duo Kurz-Strache ist eine atmosphärische Änderung eingetreten. Wie es politisch-inhaltlich weitergeht, lässt sich noch nicht umfassend beurteilen. Bereits wahrnehmbar ist Folgendes: ÖVP und FPÖ haben – mit Ausnahme von Bundeskanzler Kurz – Neulinge in die Regierung geschickt. Man wird jetzt damit rechnen müssen, dass man ein Gemisch aus Improvisation, Schnellschüssen und unausgegorenen Vorschlägen präsentiert bekommt. Man versucht sich in sozialpolitischen Neuerungen, zu denen es gravierende Gegenstimmen gibt. Ob die Indexierung der Familienbeihilfe EU-Regeln entspricht, ist noch nicht ausgestanden. Lächerlich ist die Rücknahme des Rauchverbotes. Es geht aber darüber hinaus um tiefer greifende Fragen.

Um welche konkret?

Die Frage ist, wie viel Strache steckt in Kurz? Und in welche Richtung führt der Kanzler weltanschaulich und diplomatisch das Land? Einige Sorgen sind da schon verständlich. Ein neues Kapitel mit Osteuropa wird aufgeschlagen, gespickt mit Kommentaren von Orbán, jetzt werde Österreich wieder demokratisch. Das große Thema ist nicht nur Visegrád, sondern die gesamte Europapolitik. Österreich steht vor der EU-Vorsitzführung. Die Regierung strebt bestimmte Neuordnungen in der EU an. Wichtig ist, dass die bilateralen Beziehungen zu Frankreich und Deutschland vertieft werden. Hier muss sich Kurz noch deklarieren. Wir waren immer ein westlich orientiertes Land.

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FPÖ-Abgeordnete sind in einer rechtsextremen Fraktion im EU-Parlament. Irritierend?

Der Bundeskanzler muss das noch erklären, dass Abgeordnete des Koalitionspartners in einem ganz rechten Bündnis im EU-Parlament sind. Der ÖVP ist es offensichtlich egal. Im Zuge der Entpolitisierung unseres Diskurses wird Rechtslastigkeit teilnahmslos hingenommen.

Wie sehen Sie die Rolle der SPÖ. Ist sie eine Oppositionspartei der Mitte oder eine Grünen-Ersatzpartei?

Den Ausdruck Ersatz-Grüne noch die sich dahinter verbergende Rolle übernehme ich nicht. Die Sozialdemokratie ist Jahrzehnte in der Regierung gewesen. Da haben sich bestimmte Denk- und Verhaltensmuster festgesetzt, die mit einer Oppositionsrolle nichts zu tun haben. Es wird mehr brauchen als ein paar Reorganisationsschritte. Die Denkmuster als Oppositionspartei müssen geschärft werden.

Welche Denkmuster?

Für eine sozialdemokratische Partei ist die soziale Balance das wichtigste Ziel: Vollbeschäftigung, Sicherheit, das Vermeiden zu groß werdender Abstände zwischen den Einkommen, Armutsbekämpfung. Die Partei sollte sich aber bei aller Wichtigkeit nicht auf die soziale Komponente beschränken. Sie darf sich von den Konservativen den Leistungsbegriff nicht nehmen lassen. Zweitens muss die SPÖ politische Angebote für alle machen, die der Modernisierung etwas abgewinnen können: technisch, organisatorisch und ideell. Die Partei muss jüngere Menschen ansprechen. Bei Bildung und Forschung muss sie sich stark aufstellen. Und sie muss stets die internationalen Zusammenhänge betonen. Die SPÖ darf keinen Rückfall in die Einzelstaatlichkeit und kein Abgehen vom Integrationsgedanken zulassen.

Sie denken, der Nationalismus ist Gift für die Partei?

Die SPÖ muss verständlich machen, dass die großen weltpolitischen Probleme auf einzelstaatlicher Ebene nicht gelöst werden können. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat zuletzt in einem Spiegel-Interview gesagt, wir leben in einer Ära, in der es eine Konkurrenz zwischen demokratisch und autoritär verfassten Staaten gibt. Österreich darf sich nicht aus dem Solidaritätsverbund der Europäischen Union herauslösen.

Kann die SPÖ überhaupt noch junge Menschen ansprechen?

Wir dürfen nicht nur die Partei der Pensionisten sein. Die Partei muss offen sein für eine interessante Zukunft der Gesellschaft. Dazu gehört auch, resistent gegen jede Art von Rechtspopulismus zu sein. Wenn manche in der SPÖ glauben, man kann verlorene Wählerstimmen zurückgewinnen, indem man sich so verhält wie die FPÖ, dann ist die SPÖ am Holzweg.

Fehlt es der Sozialdemokratischen Partei nicht doch an Leadership?

Nicht grundsätzlich. Wenn die Parteiführung ein Team um sich schart, das die von mir skizzierten progressiven Ziele glaubhaft und überzeugend verfolgt, dann ergibt sich daraus automatisch Leadership.

Die SPÖ ist gespalten, das sieht man in Wien: Ludwig und Schieder sind die beiden Pole.

In der Frage Regierungsbeteiligung oder Opposition gab es nach der Wahl unterschiedliche Positionen. Das Ziel, wieder Nummer 1 zu werden, wird alle in der Partei so ausfüllen, dass sie Meinungsverschiedenheiten nicht länger kultivieren, sie verlieren dabei nur an Schlagkraft. Ich rechne nicht damit, dass es zu Grabenkämpfen kommen wird.

Beeinflusst die Migrationsfrage die Differenzen in der Partei?

Die Migration ist überall ein Problem. Und übrigens auch eine Ursache für die Unsolidarität in der EU. Man muss die Fluchtursachen bekämpfen, die Menschen verlassen ihre Länder ja nicht aus Reiselust.

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Franz Vranitzky: geb.1937; Studium an der WU Wien (Dkfm., Dr.). Top-Funktionen in Banken.

Politische Laufbahn : 1984 Finanzminister, 1986-1997 Bundeskanzler, 1988-1997 SPÖ-Vorsitzender.

Verdienste: EU-Beitritt 1995; aktive Außenpolitik. Historische Reden im Nationalrat 1991 (Bekenntnis zur Mitschuld Österreichs am Nationalsozialismus) und an Hebräischer Universität Jerusalem 1993 (Entschuldigung bei Überlebenden und Nachkommen der Opfer des Holocaust).