Politik/Inland

Kern weist Kurz in die Schranken

KURIER: Herr Bundeskanzler, 60 Jahre EU: Mit 60 fühlen sich die Österreicher in der Regel schon pensionsreif. Wie viele der 27 EU-Mitglieder werden den 65er noch gemeinsam erleben?

Christian Kern: Ich gehe von 27 Ländern aus. Es wird eher eine Perspektive zur Erweiterung geben. Wir sind gerade in der Pubertät dieses Projektes...

Also gerade schwer erziehbar?
Schwer erziehbar sicher nicht, aber sie sind in einer Identitätsfindungsphase, die üblicherweise in der Pubertät einsetzt.

Erst am Beginn oder am Ende?
Der Anfang war die US-Wahl. Mit Trump und dem Brexit stellen sich Grundsatzfragen. Erstmals sind wir mit Kräften konfrontiert, die offen an einer Schwächung Europas arbeiten.

Bis jetzt ist kein Rettungspaket in Sicht. Sehen Sie noch eine Zukunft für die EU?
Das 60-Jahr-Jubiläum ist Anlass zu fragen, was wir erreicht haben. Es gibt eine beachtliche Erfolgsbilanz: Die EU ist immer noch der größte und reichste Wirtschaftsraum. Die ganze Welt schaut beeindruckt auf unser Wertefundament, das Wohlstand und 60 Jahre Frieden gebracht hat. Was wir gemeinsam erreicht haben, müssen wir betonen. Die Wirtschaftskrise 2008 war keine kleine Herausforderung, das war eine existenzielle Bedrohung. Die EU hat Lösungsfähigkeit gezeigt. Wenn wir das Gemeinsame aufgeben zugunsten eines ungezügelten Nationalismus, wird das unabsehbare Folgen haben.

Der Nationalismus grassiert jetzt schon. Also was tun?
2017 wird ein Übergangsjahr, das hat mit den Wahlen in Frankreich, möglicherweise in Italien, und in Deutschland zu tun. Bis dahin ist ein tiefgehender Prozess unrealistisch.

Heuer passiert also nicht viel?
Es gibt eine Vielzahl konkreter Projekte, aber die Grundsatzfragen werden mehr Zeit brauchen. Wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Fiskal- und Wirtschaftspolitik. Dadurch entwickeln sich reichere und weniger entwickelte Länder wirtschaftlich auseinander. Das zweite ist die abnehmende Fähigkeit, Kompromisse zu machen. Das führt dazu, dass der Langsamste oft wichtige Entscheidungen bremst.

Wie kann Europa besser funktionieren?
Europa kann nur funktionieren, wenn es solidarisch ist. Wir sind bereit, Entscheidungen mitzutragen, die uns nicht restlos begeistern, weil wir wissen, dass wir in anderen Bereichen profitieren. Aber es muss uns klar sein, dass Länder, die Solidarität von uns einfordern, sich nicht vom Acker machen können, wenn es um die Umverteilung von Flüchtlingen, das Schließen von Steuerschlupflöchern oder um Lohn- und Sozialdumping geht. Die nationalen Regierungen sind da gefordert. Ich halte vom Bashing der EU-Kommission überhaupt nichts. Wir müssen vor unserer eigenen Türe kehren, sonst wird jede Reform schwierig. Die Verantwortlichen sitzen tendenziell in den Hauptstädten und nicht in Brüssel. Das ist evident.

Kommt nach 2017 die EU der zwei Geschwindigkeiten?
Schon jetzt können sich Länder in konkreten Fragen zusammentun, andere zurückbleiben. Schengen, Eurozone, das Europäische Patentamt, die Europäische Staatsanwaltschaft sind Beispiele. Österreich ist bei fast allen Themen für eine stärkere Integration. Bei der Sicherheitspolitik wird es anders sein.

Manche wollen auch eine engere Sozialpolitik?
Es gibt im November einen eigenen Sozial-Gipfel. Es geht um den Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit, gegen Lohn- und Sozialdumping und Steuerverschiebung. Unser hohes Lohnniveau und die soziale Sicherheit dürfen nicht der Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden.

Ist ein Weiterbestehen des Europa der 27 noch realistisch?
Am Ende wird es eine EU der 27 sein müssen mit unterschiedlichen Vorgangsweisen zu verschiedenen Themen.

Soll es Strafen für Länder geben, die nicht solidarisch sind?
Das ist unrealistisch. Wir haben in der Währungsunion Beschlüsse, die nicht exekutiert werden. Das ist eines der Glaubwürdigkeitsprobleme der EU. Wir können uns entscheiden, Europa auf wenige Aufgaben zu reduzieren, oder wir nehmen unsere Beschlüsse ernst. Wenn unser Grundkonzept richtig ist, dass wir große Fragen, wie mehr Beschäftigung, Klimawandel oder die Terrorbekämpfung nur gemeinsam lösen können, müssen wir gemeinsam schneller weiter kommen. Dafür gibt es keine Patentlösung. Jeder der kommt und sagt, ich habe die Antwort auf einer Din A4 Seite, betreibt PR und nicht Europapolitik.

"Jeder der kommt und sagt, ich habe die Antwort auf einer Din A4 Seite, betreibt PR und nicht Europapolitik. (...) Wenn wir in Europa für voll genommen werden wollen, brauchen wir eine gemeinsame Linie und einen gemeinsamen Auftritt."


Sie meinen offenbar Sebastian Kurz, der im Gegensatz zu Ihnen mehr nationale Regeln und weniger der EU überlassen will. Sind seine Din A4 Papiere also für die "home consumption"?
Das will ich nicht bewerten, weil ich sie nicht kenne. Aber wenn Vorschlag ein Einsparungskonzept sein soll, dann sehe ich die nicht. Bei einem Ausfall von 14 Milliarden Euro durch den Brexit und EU- Verwaltungskosten von rund acht Milliarden wird die Kürzung von 14 Kommissarsposten das Problem nicht lösen (Kurz hatte jüngst eine Halbierung der Zahl der 28 Kommissare gefordert).

Kurz hat 5 Jahre Wartefrist für EU-Bürger bei der Mindestsicherung gefordert. D’accord?
Unser Problem ist, wie bekämpfen wir die Arbeitslosigkeit, und wie schaffen wir neue Jobs. Das war der Grund für den Beschäftigungsbonus, wo wir zwei Milliarden investieren. Der Bonus muss treffsicher sein. Das Ziel war ursprünglich, das Lohngefälle zu Ost-Europa zu reduzieren. Die erhoffte Angleichung ist nicht eingetreten. Der Zustrom auf unseren Arbeitsmarkt wird weiter bestehen bleiben. Der Beschäftigungsbonus ist mit EU-Regeln machbar. Bei der Familienbeihilfe wird es sicher Diskussionen geben. In Deutschland ist ein Beschluss wegen schwerer EU-rechtlicher Bedenken nicht zustande gekommen. Wir haben in der Regierung vereinbart, dass wir die Arbeitsmarktprüfung und die Familienbeihilfe gemeinsam auf EU-Ebene lobbyieren.

Gelingt das nicht, soll Österreich das allein beschliessen?
Wir prüfen das gerade bei der Familienbeihilfe. Wir müssen dabei auch auf die Folgen achten. In bestimmten Sektoren, wie der Pflege, sind wir von Arbeitskräften aus anderen Ländern abhängig. Ich glaube, dass uns die Rolle des Agent Provocateur in der EU nicht gut zusteht. Wir sind einer der Hauptprofiteure.

Die Fünfjahresfrist bei der Mindestsicherung steht nicht auf Ihrer Agenda?
Auf meiner Agenda steht Beschäftigung zu schaffen und unser Lohnniveau auszubauen.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat einem türkischen Minister die Landeerlaubnis verweigert, eine Ministerin nicht auftreten lassen. Würden Sie genauso reagieren?
Wenn wir einen Beitrittskandidaten haben, wo alles, was wir für richtig halten – Menschenrechte, Pressefreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit – mit Füßen getreten wird, dann erfordert das zwingend eine europäische Reaktion. Es ist mir wichtig, zu unterscheiden: Ich habe nichts gegen die Türkei, nichts gegen Türken und nichts gegen österreichische Mitbürger mit türkischen Wurzeln. Aber das Regime ist am Weg Richtung Diktatur. Wir müssen frei nach Karl Popper klar sagen, dass wir im Namen der Toleranz das Recht haben, Intoleranz nicht zu tolerieren. Man muss dabei aber sehr vorsichtig sein, dass das keine rassistische Konnotation bekommt.

Es gibt immer mehr Spitzenpolitiker die sagen, der EU-Vorsitz 2018 und eine Herbstwahl 2018 sind unvereinbar. Kann man gleichzeitig EU-Politik machen und Wahlkampf führen?
Mit dem Lissabon-Vertrag und mit Ratspräsident Tusk gibt es mittlerweile einen effizienten Apparat dahinter. Ich halte daher den Aufwand für Österreich auch deshalb für machbar.

Außenminister Kurz will während der österreichischen EU-Präsidentschaft EU-Reformen durchzusetzen. Gibt es in der Regierung ein gemeinsames Konzept oder überlassen Sie das Kurz?
Im EU-Vertrag sind die Zuständigen klar definiert, sie liegen im Europäischen Rat. Wir wissen, wer im Rat Österreich vertritt, das ist nicht der Außenminister. Unsere Aufgabe ist es auch nicht, den Brexit zu verhandeln. Die Staats- und Regierungschef geben ein Verhandlungskonzept vor, das in der EU-Kommission von Michel Barnier exekutiert wird. Die Briten werden versuchen, alle Länder gegeneinander auszuspielen. Deshalb ist es wichtig, dass wir gemeinsam auftreten. Ich habe mit dem Vizekanzler deshalb vereinbart, bis zum Sommer Schwerpunkte für den EU-Vorsitz festzulegen. Da wird der Außenminister selbstverständlich eingebunden sein. Es geht um eine österreichische Position.

Neue Ideen zu Europa sind also derzeit eine Fleißaufgabe?
Wenn wir in Europa für voll genommen werden wollen, brauchen wir eine gemeinsame Linie und einen gemeinsamen Auftritt. Es macht ja keinen Sinn, sich gegenseitig etwas vorzurechnen. Das wird in Brüssel nur sehr begrenzt ernst genommen, bzw. erreicht Brüssel erst gar nicht.