Politik/Inland

Arik Brauer: "Großer Fehler, FPÖ-Minister nicht nach Mauthausen einzuladen"

Kurier: Herr Brauer, Sie sind bei der Gedenkfeier am 8. Mai der Festredner im Kanzleramt. Auch FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache wird eine Rede halten. Die Mauthausen-Gedenkfeier hingegen findet auf Wunsch des Mauthausen-Komitees ohne FPÖ-Minister statt. Warum haben Sie einen toleranteren Zugang zur FPÖ?

Arik Brauer: Ich bin prinzipiell dafür, dass man miteinander spricht. Jetzt zu sagen: Wir sind edel und die sind unedel, bringt nichts. Ich habe den geistigen Sturm des Nazi-Faschismus erlebt. Wer nicht dabei war, kann sich gar nicht vorstellen, was eine Massenektase ausmacht. Das kommt nicht wieder. Was die FPÖ betrifft: Es gibt sie. Sie hat einen Teil der Bevölkerung hinter sich, die keine Massen-Nazis sind. Deswegen werden wir mit ihr leben müssen. Ob uns das gefällt oder nicht, ist unerheblich. Dass die FPÖ-Minister nicht nach Mauthausen eingeladen sind, ist ein großer Fehler.

Warum?

Weil ja nicht jene Vertreter nach Mauthausen kommen würden, die im Verdacht des Antisemitismus stehen. Sondern jene FPÖ-Politiker, deren historische Aufgabe es ist, die FPÖ zu einer demokratischen Partei zu formen. Für den Umbruch gibt es die ersten Anzeichen. Man muss alles daran setzen, dass es in diese Richtung weitergeht. Was mir aber viel wichtiger, als das eine oder andere Nazi-Liedl ist, ist die problematische Einstellung der FPÖ zu Europa. Die FPÖ will Europa bremsen. Ich hingegen glaube, Europa muss noch viel mehr in Richtung eines Staates gehen.

Bei der Gedenkfeier am 8. Mai wird auch FPÖ-Klubchef Johann Gudenus anwesend sein. Er hat vor Kurzem gesagt, dass es „stichhaltige Gerüchte“ gibt, dass der US-Milliardär George Soros die Migrantenströme aus dem arabischen Raum nach Europa unterstützt. Solche antisemitischen Codes irritieren Sie nicht?

Natürlich gibt es einen Antisemitismus ohne Juden. Aber der Antisemitismus ohne Juden ist das Problem der Antisemiten. Die Juden existieren als Masse in Europa nicht mehr und haben keine politische Bedeutung mehr. Die Sorge, die man sich um den Antisemitismus in Europa macht, kommt um 100 Jahre zu spät. Worüber ich mir große Sorgen mache, ist nicht der Antisemitismus, der von den alten Germanen kommt, sondern von den jungen Arabern. Was ich als Kind gehört habe, „Juda verrecke“, höre ich heute auf Arabisch.

Sind Sie mit Kritik aus der jüdischen Gemeinde konfrontiert, weil Sie am 8. Mai als Redner auftreten?

Auch ich habe diese Regierung nicht gewählt. Mir jetzt vorzuwerfen, dass ich benützt werde, lasse ich nicht zu. Denn es wird ja nicht die Gründung einer rechten Regierung mit der FPÖ gefeiert, sondern der Sieg über den Nazi-Faschismus – und da bin ich dann doch dabei.

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Ihre stärkste Erinnerung an den 8. Mai 1945?

Als ich aus meinem Versteck im Schrebergarten in Ottakring herausgekrochen bin, sah ich einen russischen Panzer. Da hatte ich das Gefühl, ein zweites Mal geboren zu sein. Für mich war das die Erlösung. Von meinem Vater, der aus Litauen stammte, hatte ich ein paar Worte Russisch gelernt. Ich lief mit meinen kaum 40 Kilos, die ich damals wog, neben dem russischen Panzer vom Flötzersteig die Gablenzgasse bis zum Gürtel hinunter und sang den Soldaten russische Lieder vor. Am Gürtel hinter dem Märzpark war in der Berufsschule noch die SS stationiert. Die Russen stellten neben mir ihre Geschütze auf und feuerten auf die Berufsschule. Ich beobachtete, wie meine Heimatstadt vom Nazi-Terror befreit wurde. Innerlich habe ich gejubelt, auch wenn ich wusste, dass in diesem Moment Menschen sterben.

Sie haben zwei Mal erlebt, wie die Stimmung bei den Österreichern umschlug. 1938 waren Sie der Lieblingsschüler Ihres Lehrers, bis er wusste, dass Sie Jude sind. Haben Sie den Stimmungswechsel nach 1945 als heuchlerisch empfunden?

Als mich die Russen von der Kampfhandlung bei der Berufsschule verscheuchten, bin ich zum Ludo-Hartmann-Platz gelaufen, wo meine Eltern eine Zimmer-Küche-Wohnung vor dem Krieg hatten. Vor dem Haus stand der Sohn eines Nachbarn. Im Krieg hatte er einen Arm verloren. Als er mich erkannte, sagte er: „Na, Judenmandl, bist durch den Rost gefallen? I bin’s eh a.“ Er fühlte sich als Opfer. Und er hatte recht. Ob er ein Nazi war oder nicht, war uninteressant. Er war ein ausgeliefertes Rädchen in der Kriegsmaschinerie. Er hatte gehungert, gefroren, wurde zum Krüppel geschossen und dann haben sie ihn weggeschmissen wie ein kaputtes Rad. Natürlich war er ein Opfer. Das habe ich sofort begriffen. Im Vergleich zu ihm bin ich mit einem blauen Auge davongekommen. Das entschuldigt aber nicht die Hauptakteure des Nazi-Faschismus.

Wann hat die Familie erfahren, dass Ihr Vater im Konzentrationslager gestorben ist?

Wir waren eine Mischfamilie. Meine Mutter und meine Schwester mussten keinen Judenstern tragen, weil sie nicht der Kultusgemeinde angehörten. Ich war eingetragen und musste einen Stern tragen. Mein Vater stammte aus Litauen. Wir wollten beide nach Riga fliehen, aber ich schaffte es nicht über die grüne Grenze. Nach dem Krieg haben wir lange Nachforschungen betrieben. Ein Bekannter meines Vaters, der von Riga weiter nach Russland flüchtete, erzählte uns bei seiner Heimkehr nach Österreich, dass unser Vater nicht mit nach Russland gehen wollte, sondern in Riga blieb, weil er zuckerkrank war und die Hoffnung hatte, dass er seine Familie nochmals sieht. Später habe ich jemanden in Israel kennengelernt, der seine Leiche aus der Gaskammer getragen hat.

Waren Sie selbst einmal in Lebensgefahr?

In der Reichskristallnacht hatte ich Glück. Ich ging damals schon in die jüdische Schule. Mein Vater war bereits bei einem Verwandten versteckt. Wir haben uns jeden Tag in der Werkstatt meines Vaters getroffen, wo wir gemeinsam Mittag gegessen haben und ich meine Hausaufgaben erledigte. Eines Tages kam ich in die Schule und die Lehrer schickten uns gleich wieder nach Hause. Sie warnten uns vor einem Pogrom. Ich hielt die Schultasche über meinen Stern und lief zur Werkstatt, die allerdings schon versiegelt war. Da ich nicht wusste, was der Streifen bedeutete, riss ich ihn runter. Die Hausmeisterin, die eigentlich eine furchtbare Antisemitin war, rettete mich an diesem Tag. Meinen Vater begrüßte sie stets so: „Hawidere, Herr Meister“. Im Nachsatz schimpfte sie leise nach: „Judengesindel, schleichts eich nach Palästina.“ Aber an diesem Tag stand die Hausmeisterin plötzlich vor mir und meinte: „Bua, komm her.“ Sie stieß mich ins Klo am Gang und sperrte es zu. Unmittelbar danach kamen zwei SA-Männer mit drei Zivilisten in unsere Schuhwerkstatt. Alles, was es in der Werkstatt gab, wurde notiert. Das beobachtete ich durch das Schlüsselloch. Plötzlich meinte einer der SA-Männer: „Geh’ Mutterl, sperr’ des Häusl auf, i muss brunzen.“ Sie antwortete: „Na, des is’ hin. Geh einen Stock höher.“ Damit war ich gerettet. Nachdem alles aus der Werkstatt in den Lastwagen verladen war, sperrte die Hausmeisterin die Klotür auf und schickte mich heim. Wenn sie mich nicht versteckt hätte, wäre ich zu Tode geprügelt worden oder mitgenommen und verschickt worden. Das war ein Erlebnis, das man nicht vergisst.

Wie schafften Sie es, so versöhnlich gegenüber den Österreichern zu sein?

Ich habe sehr früh begriffen, dass man das Erlebte nur ertragen kann, wenn man die Menschen nicht in Blöcke wie „die Deutschen“ einteilt. Wir sind Einzelpersonen und man muss die Menschen nach ihrem Verhalten beurteilen. Jenen, die sich schäbig und sadistisch benommen haben, gilt mein Hass. Viele waren eben schwach, wie die Menschen sind und ich es auch war. Was habe ich gemacht in der Hitler-Zeit? Habe ich gekämpft? Nein. Ich habe Möbel für die NS-Bonzen angefertigt. Das war auch keine Heldentat.