Juncker über Brexit: "Wir hätten die Lügen zerstreuen können"
Sein größter Fehler in diesen fünf Jahren, in denen er an der Spitze der Europäischen Kommission stand? Jean-Claude Juncker muss nicht lange überlegen: Damals, vor dem britischen Referendum über einen Ausstieg aus der EU, sei er der Bitte von Premier Cameron gefolgt und habe sich nicht eingemischt. „Es war falsch, in diesem wichtigen Moment geschwiegen zu haben. Wir wären die einzigen gewesen, die die Lügen in diesem Moment hätten zerstreuen können.“ Und so kam, was in Brüssel keiner hatte kommen sehen, am allerwenigsten der glühende Europäer Juncker – der Brexit.
Da mag der 64-jährige Luxemburger im Gespräch mit europäischen Journalisten über das britische Parlament noch so witzeln: „Alle verstehen Englisch, aber keiner versteht England.“ Doch die Enttäuschung sitzt tief beim Kommissionspräsidenten – dem ersten in der Geschichte der EU, in dessen Amtszeit ein Mitgliedsland wieder aus der EU austreten will.
2014 war der langjährige christdemokratische Premier Luxemburgs an die Spitze der mächtigsten europäischen Institution gerückt. Als „Kommission der letzten Chance“ hatte er sein Team damals bezeichnet. Sein Ziel: Die EU wieder näher an die Bürger heranzuführen, sie nach der Finanzkrise 2008 wirtschaftlich weiter zu stabilisieren und den Rückfall in den Nationalismus und Populismus zu verhindern.
Ist es ihm geglückt? Am Dienstag legte Juncker eine erste Bilanz. „Die Union ist heute stärker als die Union von gestern“, sagt er und verweist dabei vor allem auf die wirtschaftlichen Erfolge der EU in den vergangenen fünf Jahren: Europaweit sei die Beschäftigungsrate von 69 auf nunmehr 73,2 Prozent gestiegen, die Jugendarbeitslosigkeit von 21 auf 14 Prozent gesunken. 400 Milliarden Euro seien an zusätzlichen Investitionen mobilisiert worden, die Gehälter seien um 5,7 Prozent gestiegen. Seinen größten Erfolg sieht Juncker vor allem darin, „dass wir Griechenland in der Eurozone gehalten haben. Das klingt heute selbstverständlich“, meint Juncker, „aber damals war das nicht so sicher.“
Steigende Zustimmung
Indirekt in die Hände spielte Juncker ausgerechnet der Brexit: Angesichts des britischen Ausstiegschaos stieg die europaweite Zustimmung zur EU von 50 Prozent (2014) auf heute 62 Prozent.
Doch vieles bleibt noch zu tun, gesteht der im Herbst abtretende Chef der Kommission ein. „Unsere soziale Dimension ist unterentwickelt“, sagt er, und abermals fordert er: „Europa muss weltpolitikfähig werden.“ Heißt so viel wie: Die EU muss selbstbewusst und stark nach außen mit einer Stimme agieren.
Zu seiner Nachfolge sagt Juncker: Es werde den EU-Regierungschefs nicht gelingen zu verhindern, dass auch der nächste EU-Kommissionspräsident aus dem Kreis der Spitzenkandidaten bei der EU-Wahl kommt. Juncker wurde 2014 gegen den Widerstand von Viktor Orbán und David Cameron gewählt.