Weitere Proteste im Iran: Krisentreffen der politischen Führung
Wegen der anhaltenden systemkritischen Proteste im Iran ist die politische Führung zu einem Krisentreffen zusammengekommen. Nach Angaben des Präsidialamts nahmen daran neben Präsident Ebrahim Raisi auch der Parlamentspräsident sowie der Justizchef teil. In einer gemeinsamen Presseerklärung des Präsidialamtes am Sonntag riefen sie das Volk auf, die nationale Einheit zu bewahren und sich gegen die "feindseligen Verschwörungen" der Feinde des islamischen Systems zu stellen.
Die Tageszeitung "Shargh" berichtete am Sonntag, dass auch zwei Kanäle des Staatssenders IRIB gehackt worden seien. Laut "Shargh" wurden am Samstagabend die Nachrichtensendungen auf zwei Kanälen kurzfristig unterbrochen und Bilder einiger bei den Protesten verstorbener Frauen gezeigt. Dazu sei der Slogan "Steht auf und schließt euch uns an" gezeigt worden. Für das Hacking soll erneut die Gruppe Anonymous verantwortlich gewesen sein, die in den vergangenen Wochen bereits verschiedene iranische Behörden gehackt hatte.
Härteres Vorgehen gegen Demonstranten
Vize-Innenminister Majid Mirahmadi erklärte die Proteste unterdessen für beendet und kündigte zugleich ein noch härteres Vorgehen gegen Demonstranten an. Ruhe und Sicherheit seien abgesehen von "einigen kleinen Unruhen" wieder hergestellt, sagte er. Informationen vor Ort und Videos in den sozialen Medien zeichnen jedoch ein anderes Bild - die Proteste wurden auch am Sonntag landesweit fortgesetzt. Weiter sagte Mirahmadi an die Demonstranten gerichtet: "Die werden nach ihrer Festnahme nicht mehr freigelassen und bleiben bis zu ihrem Gerichtsprozess in Haft."
Laut Augenzeugen gingen die Proteste in der Nacht auf Sonntag aber unvermindert weiter. Demnach stieg die Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten deutlich. Videos in den sozialen Medien zeigten Demonstrationen und Kundgebungen in Dutzenden Städten, darunter auch in der Hauptstadt Teheran. Hunderte Oberschülerinnen und Studierende beteiligten sich Menschenrechtsgruppen zufolge, obwohl Sicherheitskräfte Tränengas und Schlagstöcke eingesetzt hätten. In vielen Fällen hätten die Einsatzkräfte auch scharf geschossen. Bei den Protesten seien auch zwei iranische Sicherheitskräfte getötet worden, wie staatliche Medien am Sonntag meldeten.
Mindestens 95 Menschen getötet
Nach Angaben der in Oslo ansässigen Menschenrechtsorganisation Iran Human Rights (IHR) wurden beim gewaltsamen Vorgehen der iranischen Behörden gegen die Demonstranten bisher insgesamt mindestens 95 Menschen getötet.
Die Demonstranten warfen den Berichten zufolge mit Molotowcocktails nach den Beamten und setzten mobile Polizeiwachen in Brand. Ein junger Autofahrer wurde den Angaben zufolge in der westiranischen Stadt Sanandaj während einer Demonstration durch einen Kopfschuss getötet. Die Polizei gab an, dass Demonstranten ihn erschossen hätten, die wiederum machten die Polizei für den Tod verantwortlich.
Nach dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini Mitte September demonstrieren im Iran zahlreiche Menschen. Die Sicherheitskräfte gehen auch mit Gewalt gegen Demonstranten vor. Beobachtern zufolge sind mindestens Dutzende Menschen im Zusammenhang mit den Protesten getötet worden, viele weitere wurden verletzt.
In einer Schule in Aminis Heimatstadt Saqqez (Saghes) in der Provinz Kurdistan skandierten Mädchen "Frau, Leben, Freiheit", auf der Straße nahmen Demonstrantinnen ihre Kopftücher ab und schwenkten sie über ihrem Kopf, wie am Samstag aufgenommene Videos nach Angaben der in Norwegen ansässigen Menschenrechtsorganisation Hengaw zeigten. Hengaw berichtete zudem von "ausgedehnten Streiks" in der Provinz Kurdistan sowie in Mahabad in der Provinz West-Aserbaidschan.
Die Universitätenkonferenz (uniko) zeigte sich am Sonntag in einer Aussendung erschüttert über die anhaltende Gewalt, mit der das iranische Regime gegen Studierende, Professoren und Zivilgesellschaft vorging. "Der tragische Tod der Kunststudentin Mahsa Amini, der eine Welle des Protests ausgelöst hat, muss lückenlos aufgeklärt werden und darf nicht ohne Folgen bleiben", so uniko-Präsidentin Sabine Seidler. Die österreichischen Universitäten richteten daher einen Appell an die Bundesregierung und die EU-Kommission, klar Stellung zu beziehen.
Die Aufnahme von bedrohten und schutzsuchenden Forschern und Forscherinnen aus dem Iran müsse erleichtert werden. Zudem solle die Einrichtung eines nationalen Unterstützungsprogramms für bedrohte Forscher nach internationalem Vorbild geschaffen werden. Damit solle besonders gefährdeten Frauen eine neue Perspektive eröffnet werden.