Was Kauders Abwahl für Merkel bedeutet
"Kauder verliert Kampfabstimmung - Union wählt Ralph Brinkhaus zum Fraktionschef" - die Nachricht kam per Eilmeldung und sorgte im politischen Berlin für ein mittleres Erdbeben. Selbst langjährige Parlamentskorrespondenten zeigten sich überrascht: Immerhin hat die Mehrheit der Abgeordneten gegen die Empfehlung von Kanzlerin Merkel, CSU-Chef Seehofer und Landesgruppenchef Dobrindt gestimmt und für einen Abgeordneten votiert, der bisher kaum in Erscheinung getreten war - und nicht zu den üblichen Verdächtigen gehört, die am Stuhl der Kanzlerin sägen. Für Unionsverhältnisse, wo Unmut zwar ausgesprochen wird, wenn es aber drauf ankommt, die Reihen hinter Merkel geschlossen zusammenrücken, hat das dennoch revolutionäre Züge.
"Das ist eine Stunde der Demokratie. Da gibt es auch Niederlagen", kommentierte Merkel gestern das Ergebnis in ihrer gewohnt nüchternen Art. Dennoch wird sie sich fragen müssen, ob sie wirklich noch das Ohr an der Bevölkerung und an den eigenen Leuten hat. Immerhin ist es das zweite Mal binnen kürzester Zeit, dass sie Stimmungen falsch eingeschätzt hat. Noch am Vortag entschuldigte sie sich öffentlich für die Causa Maaßen ("zu wenig an das gedacht hat, "was die Menschen zu Recht bewegt, wenn sie von einer Beförderung hören"), wohl auch in der Hoffnung, dass diese Krise vorerst vorbei ist. Doch bereits einen Tag später wird ihr aufgezeigt, dass sie die Gefühlslage in den eigenen Reihen unterschätzt hat. Dass es in der Union seit geraumer Zeit rumort, ist der Kanzlerin und Parteivorsitzenden sicher nicht entgangen. Nach den zähen Koalitionsverhandlungen und dem Entsetzen über die an die SPD übergegangenen Schlüssel-Ministerien versuchte sie die Wogen zu glätten: Aber es reicht nicht, wenn sie im Kabinett ein paar Gesichter austauscht oder Kritiker wie Jens Spahn in wichtige Positionen aufrücken. Der Unmut sitzt viel tiefer.
Und vielleicht war Ralph Brinkhaus jetzt einfach zum richtigen Zeitpunkt zur Stelle. Der Haushaltsexperte, seit 1998 Parteimitglied und seit knapp zehn Jahren im Bundestag, gehört nicht zur Sorte Strippenzieher, wollen Beobachter wissen. Auch dieses Image könnte ihm nun den Zuspruch beschert haben. Dabei schien seine Kandidatur zunächst wenig aussichtsreich. Als Brinkhaus vor Wochen zur Kanzlerin spazierte, sie von seiner Bewerbung unterrichtete, mit dem Hinweis mehr Motivation in die Fraktion zu bringen, machte sie ihm klar: Ihr Favorit heißt Kauder. Klar, wer wie Merkel ein enges Netz an Vertrauten um sich spannt, wird nicht in Zeiten, wo es intern knirscht, einen unbekannten Abgeordneten unterstützen. Wer weiß, was der vorhat, so eine Lesart von Merkels Entscheidung.
Bei Volker Kauder wusste sie woran sie ist. Der 69-Jährige stand ihr seit Oppositionszeiten zur Seite: Zunächst als Generalsekretär, dann mit ihrer Wahl zur Kanzlerin 2005 als Fraktionschef von CDU/CSU. Seither holte er oft genug die Kohlen aus dem Feuer. Er organisierte Mehrheiten für eine Politik, die manch einer in der Union eigentlich nicht mittragen wollte. Er agierte als Wortführer, wenn es darum ging, die Position der Fraktion vorzubringen, die manchmal aber mehr, wie jene der Kanzlerin klangen, monierten Kritiker. Kurz: Er verstand seinen Job eher als Unterstützer der Regierung als der Abgeordneten. Dies sorgt seit Jahren für Grummeln in der Partei, vor einem Jahr wurde Kauder bereits mit 77 Prozent abgestraft. Dieses Signal hätte die Kanzlerin als Warnung sehen sollen, dennoch setzte sie weiter auf ihren Vertrauten und schlug Kauder vor. Keine Experimente in unsicheren Zeiten, schon gar nicht vor so wichtigen Wahlen wie in Bayern und Hessen, so die Devise.
Neues Selbstbewusstsein
Manche Abgeordnete fühlten sich aber vielleicht genau wegen dieser Aussichten angespornt, Brinkhaus zu wählen. Denn der gelernte Steuerberater aus Westfalen, seit 1998 CDU-Mitglied, warb für einen "Generationenwechsel" und dem Versprechen, die Fraktion "eigenständiger" zu machen. Und in Zeiten von schwindender Zustimmung in der Bevölkerung, der ständigen Zankereien zwischen Merkel und Seehofer, klingt ein solches umso schöner. Seine Motivation, die Fraktion neu aufzustellen, habe nichts mit Illoyalität gegenüber der Regierung zu tun, sondern etwas mit einer "selbstbewussten, starken Fraktion", kündigte er vor Wochen an. Wie selbstbewusst der Neue auftritt, wird sich zeigen. Als Fraktionschef hat er eine eigene Machtbasis, ist nicht an eine Kabinettsdisziplin gebunden. Zudem hat er zwölf Stellvertreter um sich, darunter CSU-Mann Alexander Dobrindt oder Mittelstandschef Carsten Linnemann, die Merkels-Kurs in vielen Belangen nicht teilen - vom Thema Flüchtlinge bis zur Euro-Rettungspolitik für Griechenland. Und wenn Brinkhaus will, könnte er - anders als Kauder - der Kanzlerin das Regieren schwer machen. Derzeit tut er aber alles, um diesen Eindruck zu entkräften.
Der 50-Jährige will sich nicht als Merkel-Putscher abstempeln lassen, er wolle die Kanzlerin durch seine Wahl nicht beschädigt haben. "Ich habe den Willen, sie zu unterstützen, die Regierung stark zu machen", erklärte er gestern im ZDF-"heute journal". Auch die von FDP-Chef Christian Lindner gestellte Forderung, Merkel müsse jetzt die Vertrauensfrage im Parlament stellen, bezeichnete er als "Blödsinn". Dass sie dies nicht vorhabe, ließ sie gestern durch ihren Sprecher Steffen Seibert wissen.
Aber so tun als wäre nicht gewesen, wird ihr künftig nicht mehr gelingen. Zudem könnte Brinkhaus' Sieg für neues Selbstbewusstsein unter den Abgeordneten sorgen. Anfang Dezember wird die CDU auf ihrem Parteitag in Hamburg eine neue Führungsspitze wählen. Gut möglich, dass sich da auch andere aus der Deckung wagen und kandidieren.