3000 Festnahmen in Belarus, Opposition fordert Rücktritt Lukaschenkos
Von Evelyn Peternel
Nach der Präsidentschaftswahl in Weißrussland (Belarus) hat die Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja den langjährigen Amtsinhaber Alexander Lukaschenko zum Rückzug aufgefordert und sich selbst zur Wahlsiegerin erklärt. Die Regierung müsse darüber nachdenken, "wie sie die Macht friedlich an uns übergeben kann", sagte Tichanowskaja am Montag vor Journalisten in Minsk. "Ich betrachte mich selbst als die Gewinnerin dieser Wahl."
Laut Polizeiangaben gab es bei Protesten in Weißrussland bisher 3000 Festnahmen und dutzende Verletzte.
Seit Sonntagabend häufen sich die Hinweise auf großflächige Wahlmanipulation.
"Ich habe mitgezählt: Während meiner Dienstzeit kamen exakt 57 Wähler“, sagt die ältere Dame mit Brille. Sie arbeitet in einer Minsker Schule, wo man am Sonntag bei der Präsidentschaftswahl seine Stimme abgeben konnte. Und wo offenbar ein paar Stimmen mehr gezählt wurden: "Im Wahlprotokoll waren es plötzlich 215 Wähler“, sagt sie mit stoischer Miene.
Die Methoden, mit denen sich der Langzeitherrscher Lukaschenko seine sechste Amtszeit sichern wollte, sind vermutlich nicht neu. Neu ist, dass sie am Sonntag fleißig durchs Netz kursierten: Da waren Fotos von manipulierten Wahlzetteln zu sehen, die ausgerechnet das Kästchen für Lukaschenkos Konkurrentin Swetlana Tichanowskaja ungültig machten; daneben Videos von Wahlkabinen, in denen Lukaschenkos Getreue den Wählern über die Schulter schauen.
Alle Wahlen manipuliert
Dass er mit Hilfe dieser Methoden wieder gewinnen würde, daran zweifelte ohnehin kein Beobachter. Laut Staatsmedien holt der Amtsinhaber 80,23 Prozent der Stimmen, die Wahlkommission hat Lukaschenko bereits zum Sieger der Präsidentenwahl erklärt.
Alle bisherigen Wahlen von „Europas letztem Diktator“, wie US-Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice ihn einst genannt hat, gelten als hochgradig manipuliert. Seit 1994 hat er nie weniger als 75 Prozent der Stimmen erhalten. Diesmal war sein Umgang noch autoritärer: Weder Beobachter von OSZE noch aus dem benachbarten Russland wurden ins Land gelassen, vielen Journalisten die Akkreditierung verwehrt.
Der Grund für Lukaschenkos Nervosität heißt Swetlana Tichanowskaja. Die 37-jährige Englischlehrerin, Ehefrau eines verhafteten Oppositionskandidaten, ist in den vergangenen Wochen beinahe Popstar-artig zur Hoffnungsträgerin aller Unzufriedenen avanciert. Mehr als 60.000 jubelten ihr bei einer der letzten noch erlaubten Kundgebungen zu.
Corona brachte Lukaschenko ins Wanken
Sie bringt es allerdings nur auf 9,9 Prozent der Stimmen. Allein: Eine unabhängige Umfrage, die von Radio Free Europe durchgeführt wurde, sieht genau spiegelverkehrte Verhältnisse. Da kommt die junge Herausforderin auf 71, der alte Amtsinhaber nur auf 10 Prozent der Stimmen. Tichanowskaja kündigte bereits an, eine Niederlage nicht anzuerkennen.
Dass Tichanowskaja so viele Belarussen hinter sich vereinen kann, hat Lukaschenko sich selbst zuzuschreiben. Seine Beliebtheit schwand, weil er – der sich sonst immer „Batka“, also Väterchen, inszenierte – in der Coronakrise erratisch agierte. Er empfahl seinen Landsleuten, wegen „dieser Grippe“ in die Sauna zu gehen und Wodka zu trinken – 70.000 Infektionen und eine Wirtschaftskrise in dem ohnehin ökonomisch gebeutelten Land waren die Folge.
Tichanowskaja ist aber nicht nur dadurch zur Projektionsfläche geworden. Sie steht auch erstmals seit Jahrzehnten für eine vereinigte Opposition: Sie ist das bekannteste Gesicht eines Frauen-Trios, deren Ehemänner oder Chefs von Lukaschenko allesamt inhaftiert oder ins Exil gezwungen wurden.
Kandidatin im Versteck
Zwei Teilen der „drei Grazien“, wie sie landläufig genannt werden, erging es am Wahltag gleich. Maria Kolesnikowa wurde kurzzeitig inhaftiert – „eine Verwechslung“, wie der Staatsapparat im Nachhinein erklärte. Und Veronika Zapkala, die dritte im Bunde, verließ aus Angst das Land Richtung Polen; Spitzenkandidatin Tichanowskaja selbst hielt sich bis zur Stimmabgabe versteckt.
Diese Nachrichten dürften der Oppositionellen noch mehr Sympathien eingebracht haben, ebenso wie Lukaschenkos Umgang mit ihren Anhängern. Die ließ er am Wahltag durch anonyme Spezialkräfte willkürlich inhaftieren. Teils nur dafür, „dass sie das Victory-Zeichen zeigten oder die Faust erhoben“, so Franak Viačorka, Journalist aus Minsk. Victory, Faust und Herz, das sind die Symbole der Opposition.
Weil die Opposition angekündigt hatte, nach Wahlschluss zu demonstrieren, ließ das Regime in Minsk massenhaft Armee auffahren. Panzer wurden gesichtet, Journalisten verhaftet.
Auch das Internet hat man vorsorglich lahmgelegt. A1 Belarus, eine 100-Prozent-Tochter des österreichischen Unternehmens A1, sprach von „Gründen, die wir nicht kontrollieren können.“
Tichanowskaja ließ sich von all dem nicht beirren. Bei der Stimmabgabe wurde sie von Hunderten Fans begleitet; sie werde „alles dafür zu tun, dass die Belarussen in einem neuen Land aufwachen“, sagte sie da. Sie wünsche sich nur „freie Wahlen“.
Lukaschenko richtete ihr darum aus, wie er das Ganze sieht: Er werde sein „geliebtes Belarus nicht hergeben.“ Das lässt für die kommenden Tage nichts Gutes vermuten.
6,8Millionen Menschen in Belarus durften am Sonntag darüber abstimmen, wer sie künftig als Präsident regiert.
83,5Prozent stimmten bei der Wahl 2015 für Langzeitherrscher Lukaschenko. Alle Urnengänge bisher gelten als manipuliert. Lukaschenko hat das sogar zugegeben – allerdings sagte er, die Zahlen seien für die Opposition nach oben geschönt worden.
5 Kandidaten waren bei der Wahl zugelassen. Allerdings gilt nur Swetlana Tichanowskaja als echte Oppositionelle.