Politik/Ausland

Gefährliche Krise auf der Krim

Anstelle der ukrainischen Flagge weht auf dem Sitz des Parlaments der Krim in Simferopol die russische Trikolore. Bewaffnete hatten das Gebäude in der Nacht zum Donnerstag gestürmt, in der Nacht zum Freitag brachten sie den Flughafen der Stadt Simferopol auf der südukrainischen Halbinsel Krim unter ihre Kontrolle. Vor dem Flughafen habe sich eine Menschenmenge angesammelt, es seien Flaggen der russischen Schwarzmeerflotte zu sehen.

Sie bezeichnen sich als "Kräfte zur Selbstverteidigung der russischsprachigen Bevölkerung". Das Viertel des Regierungssitzes, berichtet die Moskauer Agentur RIA nowosti, sei abgeriegelt, eine Postenkette 150 Meter vor dem Parlamentsgebäude in Stellung gegangen, Verstärkung für die Selbstverteidigungskräfte aus anderen Teilen der Schwarzmeer-Halbinsel bereits unterwegs. Die pro-russische Volksvertretung sprach sich für eine Volksbefragung über die Zukunft der Region aus. Die Befragung soll am 25. Mai, dem Tag der ukrainischen Präsidentschaftswahlen, stattfinden.

Ukrainer sind mit maximal 24 Prozent auf der Krim eine ethnische Minderheit. Die Halbinsel gehörte bis 1954 zu Russland, dann "schenkte" Parteichef Nikita Chruschtschow sie der Ukraine. Die Mehrheit der Krim-Bewohner, aber auch der Bevölkerung Russlands hat sich damit nie abgefunden. Im Parlament der Krim, die halbautonomen Status hat, sitzen vor allem pro-russische Abgeordnete, die Mehrheit favorisiert seit dem Machtwechsel in Kiew einen Beitritt zur Russischen Föderation.

Die dritte große Bevölkerungsgruppe sind die Krim-Tataren. Stalin hatte sie 1944 wegen angeblicher Kollaboration mit der Wehrmacht deportieren lassen. Sie fühlen sich sowohl von Ukrainern als auch von Russen diskriminiert, sehen derzeit offenbar aber in der neuen Macht in Kiew das geringste aller möglichen Übel und provozierten Dienstag Zusammenstöße mit Parteigängern Moskaus in Simferopol. Begonnen hatten die Unruhen bereits am Montag. Vor dem Sitz des Bürgermeisters in Sewastopol, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist, hatten Hunderte gegen den Machtwechsel in Kiew protestiert, mehr Autonomie für die Krim gefordert.

Der größere Teil der Krim-Bevölkerung wolle sich von der Zentralregierung in Kiew keine "neue Demokratie" aufzwingen lassen, der Westen, der die Proteste in Kiew als Willen des ukrainischen Volkes anerkannte, so der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses in der russischen Duma, Alexei Puschkow, müsse respektieren, dass auch das Volk der Krim das Recht auf freie Willensäußerung habe.

Manöver

Überraschend hatte Wladimir Putin am Mittwoch "die Überprüfung der Gefechtsbereitschaft im zentralen und im westlichen Militärbezirk" angeordnet. Verteidigungsminister Sergei Schoygu sprach von einer lang geplanten Maßnahme, die mit den aktuellen Entwicklungen in der Ukraine nichts zu tun habe.

Moskau fürchtet vor allem, die neue Macht in Kiew könnte die 2010 verlängerten Abkommen zur Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim kippen. Die Werchowna Rada (das Parlament) will darüber schnell abstimmen. Nach dem Frontwechsel von rund 60 Abgeordneten der einstigen Regierungspartei haben pro-westliche Kräfte die Mehrheit, sie pochen auf eine Rückkehr zu den alten Pachtverträgen, die 2017 auslaufen.

Moskau hat keine Alternative. Russlands Teil der kaukasischen Schwarzmeerküste ist klein und ohne natürliche Gegebenheiten für einen Kriegshafen.

Russische Experten – darunter auch linientreue – halten einen bewaffneten Konflikt wegen der Krim dennoch für unwahrscheinlich.

Knapp eine Woche nach der Flucht von Präsident Janukowitsch und dem Zerfall der alten Regierung hat Kiew eine neue: Das Parlament stimmte der Regierung der nationalen Einheit zu. Sogleich kündigte der neue Regierungschef Arseni Jazenjuk, ein Parteifreund Julia Timoschenkos, "unpopuläre Entscheidungen" zur Bewältigung der Krise an. Zudem seien 37 Mrd. Dollar verschwunden, die die gestürzte Regierung als Kredit erhalten hatte, sagte Jazenjuk. Seit 2011 seien rund 70 Mrd. Dollar außer Landes geflossen.

Fünf Tage nach seiner Flucht aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew gab es am Donnerstag ein Lebenszeichen von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch: Er ließ ankündigen, dass er Freitag Nachmittag vor die internationale Presse treten werde – und zwar in der russischen Stadt Rostow am Don. Noch am Donnerstag hieß es in einem Statement, das von russischen Nachrichtenagenturen verbreitet wurde, dass sich der 63-Jährige weiterhin als legitimes Staatsoberhaupt der Ukraine sieht.

Offenbar hatte sich der gestürzte Ex-Präsident an Moskau gewendet, das sein Leben schützen solle, weil er und seine Getreuen bedroht würden. Und Russland kam diesem Ansinnen nach. "Ich informiere Sie, dass wir diesem Wunsch entsprochen haben", zitierte eine russische Quelle einen russischen Regierungsbeamten.

Über den Aufenthaltsort Janukowitsch gab es nur Gerüchte. Eines besagte, dass er zunächst in einem Moskauer Hotel gewesen sei und sich jetzt in einem Sanatorium in der Nähe der russischen Hauptstadt befinde. Tags zuvor hatten die neuen Machthaber in Kiew noch behauptet, sie hätten Informationen, wonach sich Janukowitsch in der Ukraine aufhalte.

Der Ex-Präsident wird in seiner Heimat wegen Massentötungen während des Aufstandes gesucht. Am Mittwoch wurde ein internationaler Haftbefehl beantragt. Die neue ukrainische Führung strebt an, Janukowitsch vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag den Prozess zu machen.

Die Schweizer Regierung hat unterdessen angekündigt, Guthaben einzufrieren, bei denen es eine Verbindung zu Janukowitsch gibt.

Russische Manöver, die Armee in Alarmbereitschaft, pro-russische Tumulte auf der Krim – klingt gefährlich und nach Krieg. In den Straßen Kiews werden Szenarien diskutiert: ein georgisches Szenario etwa, also eine militärische Intervention Russlands zum Schutz seiner Staatsbürger im Ausland bei gleichzeitiger Unterstützung separatistischer Tendenzen – etwa auf der Krim. Dass es eintreten wird, glaubt aber auch in ukrainischen Sicherheitskreisen kaum jemand.

Zu viele Risiken birgt die Krim für Moskau. Die Krim-Tartaren haben sich offen auf die Seite der Revolution gestellt. Unter keinen Umständen wollen sie unter russische Kontrolle geraten.

Für Russland ist dieser Umstand ein nicht kalkulierbares Risiko mit enormem Gewaltpotenzial, bei zugleich äußerst hohem Einsatz: Auf dem Spiel steht nicht weniger als die russische Schwarzmeerflotte; das Risiko, mit einer Intervention zugleich Separatismus im eigenen Land zu säen, ist hoch – etwa im Kaukasus oder auch in Tatarstan, einer der wirtschaftlich fortschrittlichsten Regionen Russlands.

In diesem Licht erscheinen andere Mittel wahrscheinlicher: ein Handelsembargo etwa oder die Einstellung von Kreditvergaben.

Dass Moskau Stärke zelebriert, ist vor allem auch ein Signal nach innen: Putins Macht fußt auf dem Nimbus des Unschlagbaren. Dieses Trugbild hat mit dem Waterloo von Kiew Schrammen bekommen.

Die Ukraine vor der Zahlungsunfähigkeit retten – das ist ein Job für den Internationalen Währungsfonds (IWF). Die ukrainischen Behörden haben offiziell um Hilfe angesucht, bestätigte IWF-Chefin Christine Lagarde am Donnerstag. Nächste Woche treffen IWF-Experten in Kiew ein, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Ukraine braucht nach Eigenangaben binnen zwei Jahren 35 Mrd. Dollar, um den Staatsbankrott abzuwenden. Russland erklärte sich bereit, an IWF-Beratungen teilzunehmen. Moskau hatte der Ukraine 15 Mrd. Dollar zugesagt, wegen der Unruhen in Kiew aber nicht ausgezahlt.

Die Europäische Investitionsbank finanziert nur längerfristige Projekte. Derzeit seien die Aktivitäten in der Ukraine auf Eis – sie könnten aber rasch wieder aufgenommen werden, sobald eine Regierung steht, sagte EIB-Vizepräsident Wilhelm Molterer.

Seit 2007 hat die EU-Hausbank 2,144 Mrd. Euro Darlehen an die Ukraine vergeben – im Vorjahr 500 Mio. Euro. Innerhalb der EU flossen im abgelaufenen Jahr 71,7 Mrd. Euro EIB-Kredite zur Finanzierung von Klein- und Mittelbetrieben, Forschung, Energie und Infrastruktur.

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Die EU könnte nach den Worten von Deutschlands Außenminister Frank-Walter Steinmeier eine Milliarde Dollar zu einem ersten Hilfspaket für die kurz vor dem Staatsbankrott stehende Ukraine beisteuern, hieß es dann am Donnerstag Abend. Etwa diese Größenordnung, die auch die USA in Aussicht stellen, müsste die EU aufbringen, sagte Steinmeier nach einem Treffen mit seinem US-Kollegen John Kerry in Washington.

Die ukrainische Halbinsel Krim mit dem darauf gelegenen Flottenstützpunkt von Sewastopol ist seit langem ein Streitpunkt zwischen Moskau und Kiew. Die Halbinsel am Schwarzen Meer hat seit 1991 den Status einer autonomen Republik innerhalb der Ukraine, doch gibt es weiterhin Abspaltungstendenzen unter der mehrheitlich russischsprachigen Bevölkerung.

Die Halbinsel, die mit 27.000 Quadratkilometern in etwa so groß ist wie Niederösterreich und die Steiermark zusammen, ist dank ihres subtropisches Klimas ein gutes Weinbau- und Tabakgebiet und hat zahlreiche Badeorte. Seit jeher war das Gebiet Ziel von Invasionen und Besatzungsmächten.

1783 wurde die Krim durch die russische Kaiserin Katharina II. von den Osmanen erobert und dem Zarenreich angeschlossen. Zugleich wurde in einer Bucht an der Südspitze Sewastopol gegründet, das bald zum wichtigsten russischen Flottenstützpunkt im Schwarzen Meer wurde. 1954 wurde die Krim von Kremlchef Nikita Chruschtschow überraschend der ukrainischen Sowjetrepublik zugeschlagen. Die Hafenstadt Sewastopol mit mehr als 300.000 Einwohnern gehört nicht zum Autonomiegebiet, sondern wird direkt aus Kiew verwaltet.

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Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 brach zwischen Moskau und Kiew ein erbitterter Streit um die sowjetische Schwarzmeerflotte aus. Kiew forderte einen Teil der Flotte für sich. Erst nach jahrelangem Zank wurde 2010 ein Abkommen unterzeichnet, mit dem Russland bis 2042 die Nutzung des strategisch wichtigen Marinehafens in Sewastopol gestattet wurde. Im Gegenzug gewährte Russland der Ukraine einen 30-prozentigen Preisnachlass bei den für die Ukraine lebenswichtigen Gaslieferungen.

Die Mehrheit der rund zwei Millionen Bewohner der Halbinsel zwischen dem Asowschen Meer und dem Schwarzen Meer ist russischsprachig. Nur 24 Prozent sprechen Ukrainisch und rund zwölf Prozent gehören der muslimischen Volksgruppe der Tartaren an.

Im Mai 1944 wurden die seit Jahrhunderten auf der Krim ansässigen Tartaren von Stalin nach Zentralasien deportiert, der Diktator bezichtigte sie der Kollaboration mit den deutschen Besatzern. Etwa die Hälfte von ihnen starben. 1991 kehrten viele Tartaren und deren Nachkommen auf die Krim zurück. Ihr Verhältnis zu Moskau ist bis heute von Misstrauen geprägt, und viele unterstützten im Konflikt mit Janukowitsch die Opposition.

Auf der Krim-Konferenz im Badeort Jalta berieten die alliierten Staatschefs Franklin D. Roosevelt (USA), Winston Churchill (Vereinigtes Königreich) und Josef Stalin (UdSSR) 1945 über die Machtverteilung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Krim ist zudem ein beliebter Urlaubsort für Millionen Touristen. Sie ist zudem für ihren Sekt bekannt.

Das Parlament in Kiew hat am Donnerstag den Politiker Arseni Jazenjuk als Interims-Regierungschef gewählt. Der 39-Jährige ist eine Schlüsselfigur der Protestbewegung. Die Personalien hatte der sogenannte Maidan-Rat der Demonstranten am Unabhängigkeitsplatz in Kiew am Mittwochabend vorgeschlagen; das Parlemt hat dem Kabinett am Donnerstag zugestimmt. Die prominenten Politiker Julia Timoschenko und Vitali Klitschko stehen hingegen nicht auf der Kabinettsliste, sie werden bei der Präsidentenwahl am 25. Mai antreten.

Die neuen Machthaber in der Ukraine haben ihre Koalition unter das Motto "Europäische Wahl" gestellt, so Interimspräsident Alexander Turtschinow am Donnerstag im Parlament in Kiew. Das Fernsehen übertrug die Sitzung live. Den Zusammenschluss stützen 250 Abgeordnete. Das Parlament hat 450 Sitze.