Überfordert und übergriffig: Proteste gegen Frankreichs Polizei
Von Danny Leder
Boyenval ist kein Beton-Ghetto, sondern eine einfallsreich gestaltete Siedlung im Grünen. Aber Boyenval, am Rande der Kleinstadt Beaumont im nördlichen Pariser Einzugsgebiet, gehört auch zu jenen Orten, die man in Frankreich etwas verlegen „les quartiers“ (wörtlich: die Viertel) nennt, womit Wohnanlagen gemeint sind, in denen vielfach einkommensschwache Familien mit Migrationshintergrund leben.
Seit drei Jahren versammeln sich im Juli in Boyenval Bewegungen, die der Polizei exzessive Gewalt vorwerfen. Im Juli 2016 war es dort zu Unruhen gekommen, nachdem ein 24-jähriger Franzose aus einer afrikanischen Familie, Adama Traoré, in Gendarmerie-Gewahrsam gestorben war.
Erstickt?
Adama war weggelaufen, als Beamte einen seiner Brüder verhafteten, der wegen einer Erpressungsaffäre gesucht wurde. Daraufhin liefen die Gendarmen auch Adama nach und nahmen ihn fest.
Die Behörden behaupteten, er sei an den Folgen einer chronischen Infektion gestorben. Seine Familie erbrachte eine Gegenexpertise, wonach Adama an keiner derartigen Krankheit gelitten habe, sondern erstickt sei. Tatsächlich hatten drei Beamte bei Adamas Festnahme auf ihm gekniet und seine Atembeschwerden ignoriert.
Übergriffe der Polizei gegen junge Männer aus afrikanischen oder arabischen Familien werden immer wieder gemeldet. Es ist allerdings schwierig für die Öffentlichkeit, sich ein Urteil zu bilden, wenn man die stellenweise ausufernde Gewalt krimineller Jugendmilieus berücksichtigt, die nicht nur den Einsatz der Polizei, sondern auch der Feuerwehr zum Spießrutenlauf machen kann.
Aber der Fall Adama wurde durch die unablässigen Auftritte einer seiner Schwestern, Assa Traoré, wachgehalten. Die 34-jährige Fachpädagogin für Sonderschüler baute Brücken zu verschiedensten Milieus.
Bei ihrer bisher letzten Kundgebung in Boyenval diesen Juli waren unter den Tausenden Teilnehmern Hunderte „Gelbwesten“ zugegen. Ein Sprecher dieser Bewegung, die sich eher im ländlichen Raum gebildet hatte, erklärte: „Die Gewalttaten der Polizei, die wir seit November 2018 erleiden mussten, haben eure Viertel schon lange erlebt. Es tut mir leid, dass ich das nicht schon früher verstanden habe.“
Solche Sprüche erscheinen allerdings seltsam, wenn man bedenkt, dass bei Aufmärschen der „Gelbwesten“ ganze Meuten immer wieder auf die Polizei losgingen, Amtsgebäude anzündeten und Geschäftsviertel verwüsteten. Es stimmt freilich, dass sich Polizisten durch Prügelorgien revanchierten.
Vor allem aber wurden Hartgummi-Geschoße und Tränengasgranaten (mit bis zu 25 Gramm TNT-Sprengstoff) abgefeuert. Die Folgen sind verheerend: Insgesamt verloren 24 Demonstranten ein Auge, fünf musste eine Hand amputiert werden. In Marseille starb eine 81-jährige Frau, die von ihrem Fenster eine Demo beobachtet hatte und von einer Tränengasgranate im Gesicht getroffen worden war.
UN-Kritik
Auf Frankreich prasselte Kritik auch seitens der UNO und des Europarats nieder. Die Regierung erklärte, dass solche Mittel nötig seien, um rabiate Mengen in Schach zu halten und Nahkämpfe mit Todesopfern zu vermeiden.
Soeben aber geriet die Staatsspitze um Präsident Emmanuel Macron neuerlich in Schieflage. Am vergangenen Montag wurde der Leichnam von Steve Canico aus dem Loire-Strom in der westfranzösischen Stadt Nantes geborgen.
Der 24-jährige Schülerbetreuer hatte vor einem Monat an Techno-Partys an den Ufern der Loire teilgenommen, die die Behörden um vier Uhr morgens beenden wollten. Einige Besucher machten trotzdem weiter, ein paar Flaschen flogen auf die Polizei. Diese setzte Tränengas ein. Von den Gasschwaden umnebelte Personen fielen in den Fluss, darunter Canico.
Trotzdem erklärte jetzt Premier Edouard Philippe, es gebe „keinen Zusammenhang“ mit der Intervention der Polizei. Dabei berief er sich auf einen Bericht der polizeiinternen Kontrollbehörde. Diese hatte unliebsame Zeugen schlicht nicht angehört.
Brennende Barrikaden
Gegen den Willen der Familie von Steve Canico kam es am Samstag zu einer Anti-Polizei-Demo in Nantes, die sofort ausartete. Vermummte Teilnehmer griffen die Polizei mit Feuerwerkskörpern an, rammten Amtseingänge und errichteten brennende Barrikaden.
Dieses gegenseitige Aufstacheln zwischen dem Staat und Teilen der Bevölkerung gehört in Frankreich zu einer unheilvollen Tradition. Sozialkonflikte werden oft von Drohgebärden begleitet. So neigt auch der – konservative – französische Bauernbund zu Handgreiflichkeiten: Seit die Regierung dem Freihandelsabkommen CETA mit Kanada zustimmte, werden Ortsbüros der Parlamentarier der Partei von Macron von Bauern-Aktivisten verwüstet.
Auch im Fall Adama Traoré liegt ein Kontext vor, der seinen Erstickungstod unter Einwirkung der Gendarmen in keiner Weise verharmlost, aber den man kennen muss. Hört man sich vor Ort um, erfährt man, dass Brüder von Adama dazu neigten, ihre Umgebung einzuschüchtern und dass sie einen Burschen aus einem nichtigen Anlass derartig verprügelten, dass er in Lebensgefahr schwebte.