Politik/Ausland

Türkei macht Druck: "Haben noch keinen Cent bekommen"

Der Sondergipfel zwischen der EU und der Türkei heute, Montag, in Brüssel soll endlich die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise voranbringen. Ankara soll die Flüchtlinge, die über seine Grenzen nach Europa gelangen, stoppen. Was aber verlangt Ankara im Gegenzug – und hat die EU ihre bisherigen Versprechen erfüllt? Darüber sprach der KURIER mit Mehmet Hasan Gögüs, türkischer Botschafter in Wien, und einer der erfahrensten EU-Verhandler der Türkei.

KURIER: Wie stellt sich die Krise aus türkischer Sicht dar?

Mehmet Gögüs: Die Türkei hat dieses Flüchtlingsproblem seit fünf Jahren, seit der Syrienkrieg ausgebrochen ist. Unglücklicherweise haben unsere europäischen Freunde das erst wahrgenommen, als die Menschen an ihre Türen geklopft haben. Wir haben jetzt 2,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei. Die Türkei ist also das Aufnahmeland Nummer eins. Wir haben neun Milliarden Dollar (8,2 Mrd. Euro) dafür ausgegeben. Und auf der syrischen Seite der Grenze warten weitere 70.000, die wir auch verpflegen.

Die EU verlangt von der Türkei, die Grenzen dichtzumachen. Was können Sie leisten?

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Wir haben 3000 Kilometer Küste an der Ägäis. Es ist keine leichte Aufgabe, den Flüchtlingsstrom von einem Tag auf den anderen zu stoppen, als ob man einen Wasserhahn zudrehen würde. Die türkische Küstenwache hat 2015 92.000 Menschen bei der Überfahrt gestoppt und 3694 Menschenschmuggler festgenommen und vor Gericht gestellt. Die EU sagt uns, wir sollen unsere Grenzen im Osten öffnen und im Westen schließen, das ist eine sehr schwer erfüllbare Forderung.

Die EU hat Hilfsgelder zugesagt. Was ist bisher eingetroffen?Soweit ich informiert bin, hat die Türkei bis heute noch keinen Cent von den versprochenen Hilfsgeldern erhalten – und das ist Geld, das direkt in Hilfsprojekte für die Syrer gesteckt werden soll.

Was ist die dringendste Forderung der Türkei an die EU?Wir verlangen von der EU, dass sie sofort Flüchtlinge aus der Türkei in die EU umsiedelt. Das war versprochen, dazu hat sich die EU verpflichtet und sie hat es bis jetzt nicht erfüllt. Die EU hat versagt, es gibt riesiges Chaos.

Ankara will aber auch für seine Bürger Erleichterungen.Wir haben zugesagt, illegale Migranten zurückzunehmen, auch Staatsbürger aus Drittländern. Im Gegenzug erwarten wir Visa-Liberalisierung. Das haben wir von Anfang der Verhandlungen mit der EU an vereinbart. Europa muss sich keine Sorgen machen. Wenn die Visa-Pflicht aufgehoben wird, werden die Türken Europa nicht überfluten. Es gibt inzwischen bessere Karrieremöglichkeiten für Türken in der Türkei.

Wie soll es mit den EU-Beitrittsverhandlungen weitergehen?

Die Türkei klopft seit 50 Jahren an die Tür Europas. Das Einzige, was wir wollen, ist faire Behandlung. Von der Türkei soll das Gleiche verlangt werden wie von den anderen Kandidatenländern. Ob wir dann beitreten oder nicht, ist eine andere Frage. Wir wollen einfach den Beitrittsprozess durchführen, ohne politische Behinderung, ohne Blockaden.

Die EU sorgt sich um die Missachtung von Menschen- und Bürgerrechten in der Türkei.Journalisten werden nicht wegen ihrer journalistischen Arbeit verhaftet, sondern wegen krimineller Handlungen, wie etwa die Unterstützung terroristischer Aktivitäten. Die kurdische PKK gilt international offiziell als Terrorgruppe. Aber es gibt Fotos von Demonstrationen in Österreich mit dem Bild des Kurdenführers Öcalan und der Flagge der PKK. Das wäre so, als würde man Demonstrationen mit Fahnen des IS oder Bildern von Osama bin Laden zulassen.

Der EU-Türkei-Gipfel

Ziel: Die Türkei ist für die meisten Flüchtlinge das Tor Richtung Europa. Die EU will, dass Ankara den Zustrom bremst – was bislang nicht geschehen ist: Im Februar sind wieder 55.000 Flüchtlinge von der Türkei Richtung Griechenland aufgebrochen.

Gegengeschäft: Die Türkei will als Gegenleistung nicht nur Geld – die EU-28 haben vorerst drei Milliarden Euro versprochen –, sondern drängt auch auf eine Beschleunigung der seit Jahren stockenden Beitrittsverhandlungen. Als ersten Schritt soll es ab Herbst Visa-Erleichterungen für Türken geben, die in den Schengen-Raum einreisen wollen. Die von Präsident Erdogan geforderte Visa-Freiheit dürfte es so bald allerdings nicht geben

"Die EU hat versagt", meint der türkische Botschafter in Wien. Ja, vom bequemen Fauteuil des Diplomaten lässt es sich locker urteilen, vom harten Stuhl des Redakteurs übrigens auch. Also wollen wir einmal fair sein: Noch nie seit dem 2. Weltkrieg waren Politikerinnen und Politiker in einer derart schwierigen Lage wie die meisten der 28 EU-Regierungschefs. Gut, ein paar Schlaumeier wie der Ungar Orban tun sich leicht: "Grenzen zu, nächstes Thema!" Wer nach Idomeni an der mazedonischen Grenze blickt, sieht, wie dumm und verantwortungslos diese Sicht ist.

Die Euro-Krise ließ sich mit viel Geld und guten Nerven lösen, weil die Bürger in den meisten Staaten kaum direkt betroffen waren. Auch von den Flüchtlingen merken die meisten Europäer persönlich nichts. Aber die Bilder demonstrieren zugleich Überforderung und Aussichtslosigkeit. Kriege und Elend an den Grenzen Europas wären auch durch eine entschlossene Politik kaum lösbar, durch die ständigen Streitereien erst recht nicht.

Also erhoffen wir einen Gipfel der anständigen Intelligenz. Die Mehrheit der EU-Länder sollte einsehen, dass gemeinsame, europäische Maßnahmen notwendig sind. Und die EU braucht die Türkei. Kritik wegen der offensiven Missachtung von Pressefreiheit und Menschenrechten dürfen wir uns aber nicht verbieten lassen.

Und weil zuletzt oft die Griechen gescholten wurden. In einem Punkt sind sie den Österreichern voraus: Auch in Athen gibt es VerlegerInnen, die Unternehmen erpressen, wenn sie keine Inserate bekommen. Ein griechisches Unternehmen war mutig genug, das anzuzeigen, jetzt ermittelt der Staatsanwalt. Hier bräuchten wir bei uns einen Gipfel der Anständigen,damit diese kriminellen Methoden endlich aufhören. Wer traut sich? - Helmut Brandstätter