Erdogan zensuriert Internet
Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat schon bessere Zeiten erlebt: erst die Proteste rund um den Gezi-Park in Istanbul, jetzt die massiven Korruptionsvorwürfe gegen seine AKP-Partei. Und das alles im Vorfeld der Kommunalwahlen am 30. März, die darüber entscheiden werden, ob Erdogan im Sommer für das Amt des Präsidenten kandidieren wird. Entsprechend rigoros geht Erdogan gegen alle, die sich aus seiner Sicht gegen ihn verschworen haben, vor. Dazu gehören nach Staatsanwälten und Tausenden Polizisten, die er versetzen ließ, jetzt auch das Internet und soziale Netzwerke, die eine „Bedrohung der Gesellschaft“ darstellen. Das Parlament in Ankara hat in der Nacht zum Donnerstag folglich ein Gesetz zur Internet-Zensur beschlossen.
Schon bisher konnten Internet-Seiten relativ leicht gesperrt werden, und YouTube war bis zu einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs 2010 gleich 18 Monate blockiert. Aber künftig bedarf es nicht einmal mehr eines Gerichts für diese Art der Zensur: „Mit dem im Gesetz genannten Schutz der Privatsphäre kann künftig jede Internet-Seite, jeder Blog, jede Facebook-Eintragung, Twitter-User, jedes Online-Video ohne richterlichen Bescheid gesperrt werden“, erklärt Yaman Akdenzik, Rechtswissenschaftler an der Bilgi Universität in Istanbul im Gespräch mit dem KURIER. Dazu könnte als Argument bei Videos schon reichen, dass die gezeigte Person nicht ihre Zustimmung gegeben hat.
Instrument der Macht
Das Gesetz, das ursprünglich gegen Kinderpornografie, Glücksspiel, Anstiftung zum Suizid oder zur Prostitution gerichtet war, „wird nach den Gezi-Protesten und der Korruptionsaffäre jetzt zum Instrument der politischen Kontrolle“, findet der Jurist klare Worte. „Jede Information, die der Regierung potenziell schaden könnte, kann unterdrückt werden.“
Auf die Frage, was das für die Medienfreiheit in der Türkei bedeutet, gibt sich Yaman Akdenzik abwartend: „Wir werden sehen, wie sie das Gesetz in der Praxis umsetzen.“ Jedenfalls rennen Journalistenorganisationen dagegen Sturm. Möglich ist, dass der Verfassungsgerichtshof angerufen wird. Auch deshalb, weil jeder Internet-Anbieter sich dazu verpflichten muss, das Surfverhalten all seiner User – derzeit sind das 35 Millionen – zwei Jahre lang zu speichern und der Telekom-Behörde zugänglich zu machen.
Bewegt sich der EU-Beitrittskandidat Türkei damit in Richtung Diktatur? „Hm. Auf jeden Fall bewegt sie sich mit seinem Internet-Gesetz weg von der Europäischen Union“, so Akdenzik.
Protest der EU
Das sieht EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle auch so. Oder wie es sein Sprecher Peter Stano formuliert: „Dieses Gesetz löst ernsthafte Bedenken aus. Die türkische Öffentlichkeit hat mehr Information und Transparenz verdient, nicht mehr Einschränkungen. Dieses Gesetz bedeutet aber einige Einschränkungen bei der Meinungsfreiheit. Es muss korrigiert werden, um den europäischen Standards zu entsprechen. Die Türkei ist ein EU-Kandidatenland, also muss bei jeder Gesetzesänderung darauf geachtet werden, dass sie den EU-Standards entspricht.“
Will eine Regierung durchsetzen, dass bestimmte Webseiten in einem Land nicht für die Bevölkerung zugänglich sind, kann sie lokale Internetanbieter – wie jetzt in der Türkei – dazu zwingen, die jeweiligen Adressen zu sperren. Die Provider können die Seiten anschließend blockieren. Ruft ein Anwender in dem jeweiligen Land eine verbotene URL oder IP-Adresse auf, bekommt er dann lediglich eine Fehlermeldung beziehungsweise einen Hinweis auf die Sperre.
Derartige Systeme kommen bereits in vielen Ländern zum Einsatz. In China filtert die berüchtigte „große Firewall“ den gesamten Internetverkehr und blockiert auch populäre Dienste wie Facebook oder Twitter. In Großbritannien werden etwa Webseiten mit pornografischen Inhalten gesperrt, sofern man sie nicht dezidiert freischalten lässt. Andere europäische Internetprovider werden per Gerichtsurteil etwa auch dazu verpflichtet, Webseiten zu sperren, die das Urheberrecht verletzen.
In Österreich ist es derzeit Gegenstand mehrerer Gerichtsverhandlungen, ob Provider zu Internetsperren bei Urheberrechtsverletzungen verpflichtet werden können.
Nicht wasserdicht
Unumgänglich ist diese Art von Sperren nicht. Durch den Einsatz von zwischengeschalteten Computern (sogenannte Proxy-Server), die in anderen Ländern stehen, lassen sie sich mit relativ wenig technischem Aufwand umgehen. In der Türkei soll auch das verhindert werden.
Die Rede vor Tausenden Auslandstürken am Dienstag in Berlin zeigte: Erdogans Wahlkampf beschränkt sich nicht nur auf die Türkei. Es geht um Einfluss und Wählerstimmen, auch im Ausland: Schließlich leben allein in Deutschland 1,3 Millionen türkische Staatsbürger. Bei den Präsidentschaftswahlen sind sie wahlberechtigt.
Obwohl kaum wahlentscheidend, bieten sie eine willkommene Stütze: Die Zustimmung der hier lebenden Türken gegenüber Erdogans AKP ist höher als im Land selbst, erläutert der Istanbuler Politologe Ekrem Güzeldere dem KURIER. Besonders aus den ländlichen Regionen der Türkei sind die Menschen ausgewandert. Traditionell sind das Hochburgen der AKP.Es ist also wenig verwunderlich, dass die Auslandstürken kontinuierlich ins Zentrum des Interesses rücken. Das geht über potenzielle Wählerstimmen hinaus: Gehandelt wird nach dem Prinzip, die Familie der Türken müsse weltweit zusammenhalten. 2010 schuf Erdogan sogar ein eigenes Ministerium für Auslandstürken.
Einfluss stärken
Seit den Korruptionsvorwürfen ist der türkische Premier besonders bemüht, den Einfluss in der Diaspora zu stärken. Türkische Vereine werden nach Ankara eingeladen und finanziell ausgestattet. So schafft sich der Premier Verbündete, auch außerhalb der Türkei. „Die AKP kann sich außerdem auf nahestehende Institutionen stützen. Darunter Ditib, welches in Deutschland an die 2000 Moscheen betreibt“, erklärt Güzeldere. Auch der größte Moscheenbetreiber in Österreich, der Verein ATIB, soll zumindest teilweise durch den türkischen Staat finanziert sein.
Lobbyarbeit betreibt zudem die Union der Europäisch-Türkischen Demokraten, welche die Rede in Berlin organisierte. Der Verein expandierte zuletzt in 60 Städte. Auch in Wien gibt es einen Ableger.