Szenarien eines "harten" Brexit: Abwanderung, Mangel, Unruhen
Großbritannien nach dem Brexit: Eine düstere, verfallende Welt, umgeben von Stacheldraht und mit Graffiti übersäten Mauern. Das ist der Schauplatz eines vom britischen Studio PanicBarn kreierten, satirischen Computerspiels namens „Not Tonight“.
Der Spieler hat darin die Aufgabe, sich durch diese Horrorvision eines von Europa abgeschotteten Inselstaats zu schlagen. Er lebt in einem trostlosen Migranten-Ghetto und muss ständig darum kämpfen, genug zu verdienen, um nicht von der Fremdenpolizei aus dem Land geworfen zu werden.
Mindestverdienst: 33.000 Euro
Zumindest letzteres entspricht tatsächlich den diese Woche veröffentlichen Empfehlungen des Migration Advisory Council, eines britischen Expertenrats zum Thema Einwanderung.
Dieser rät, neu eingewanderte EU-Bürger nach dem Brexit genau wie Zuzügler aus allen anderen Ländern zu behandeln. Derzeit bedeutet das einen Mindestverdienst von umgerechnet 33.000 Euro pro Jahr als Bedingung für den Aufenthalt.
Laut einer Erhebung des Think Tank IPPR würden drei Viertel der heute in Großbritannien beschäftigten Kontinentaleuropäer an so einer Einkommenshürde scheitern: Von den begehrten Obstpflückern und Krankenschwestern bis hin zu den jungen Kreativen, die in London ihr Tor zur Welt suchen. Fragt sich bloß, ob jene dort nach dem Brexit weiter anklopfen würden.
"Brexodus"
Denn schon jetzt ist ein merklicher „Brexodus“ desillusionierter EU-Bürger aus Großbritannien zu beobachten, was sich unter anderem in über 100.000 Leerstellen im staatlichen Gesundheitssystem äußert.
Zur Linderung des akuten Mangels an Saison-Arbeitskräften auf den Obst-Plantagen hat Umweltminister Michael Gove den britischen Farmern für die nächsten zwei Jahre Spezial-Visa für 2500 Nicht-EU-Bürger versprochen. Das entspricht allerdings nur einem Dreißigstel der benötigten Pflücker.
Und während auf Britanniens Feldern und Bäumen das nicht geerntete Obst verfault, stellt die Fabrik des Autoherstellers Jaguar Land Rover in Birmingham ab Oktober auf eine Drei-Tage-Woche um.
Erst letzte Woche hatte Jaguar-Chef Ralf Speth gewarnt, ein Brexit ohne Deal würde die zum Funktionieren moderner Autowerke nötige, präzise organisierte Zuliefer-Kette zum Stillstand bringen.
„Der erfindet das nur“, wetterte daraufhin der konservative Brexit-Hardliner Bernard Jenkin. „Wir haben in dieser Debatte von diversen Angstmachern alle möglichen Zahlen gehört, aber ich fürchte, die glaubt keiner mehr.“
Dabei steht bereits seit Juni fest, dass die Produktion des Prestige-Modells Range Rover Discovery nächsten Frühling von Großbritannien in die Slowakei verlegt wird.
"Erhebliche Risiken"
Schon im August hat der Verband der regionalen Polizeichefs Innenminister Sajid Javid Anfang August in einem Brief vor „erheblichen Risiken“ für die Sicherheit der Bevölkerung gewarnt. Einerseits durch den Verlust europäischer Mechanismen zur Verbrechensbekämpfung, andererseits wegen der im Fall von Lebensmittelengpässen zu erwartenden zivilen Unruhen.
Es sind derlei bedrohliche Aussichten, die den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan vergangene Woche dazu veranlassten, mit seiner offenen Forderung nach einem sogenannten „People's Vote“, also einer neuen Volksabstimmung, über das Ergebnis von Theresa Mays Brexit-Verhandlungen vorzupreschen.
Beim am Sonntag beginnenden Labour-Parteitag in Liverpool werden über 150 Anträge zum Thema Brexit zur Debatte stehen.
Bisher hatte die große Oppositionspartei lieber auf Neuwahlen spekuliert. Im engen Kreis rund um Parteichef Jeremy Corbyn wurde die parteiübergreifende Kampagne für ein zweites Referendum als elitäre Verschwörung der tendenziell pro-europäischen Parteirechten bzw. als Affront gegen Brexit-wählende Kernwählerschichten ausgelegt.
Doch seit sowohl die Gewerkschaften als auch linke Basis-Initiativen wie „Another Europe Is Possible“ für ein „People's Vote“ mobil machen, kommt auch Corbyn zunehmend unter Druck, klar gegen den Brexit Stellung zu beziehen.
May als Bauernopfer?
Premierministerin Theresa May dagegen droht nach ihrer Demütigung beim Salzburger EU-Gipfel ein Gemetzel beim konservativen Parteitag im Oktober.
Sie und ihr von allen Seiten ungeliebter „Chequers Deal“ könnten dort das Bauernopfer werden, auf das sich der pragmatische „Remainer“-Flügel und die ideologisch harte Brexit-Fraktion einigen, um eine Spaltung ihrer Partei – vorübergehend – zu vermeiden.
Und die allgemeine britische Öffentlichkeit?
Die will vom Brexit schon lange nichts mehr hören. Bislang äußerte sich das vor allem in dem genervten Wunsch, die ganze Angelegenheit – nach dem Motto „Get on with it!“ - doch endlich hinter sich zu bringen.
Jetzt aber, wo sich die Ausmaße des Desasters abzeichnen, Medikamente gehortet und Notfallpläne geschmiedet werden, scheint es fast so, als könnte dieselbe Ermüdung auch zum umgekehrten Schluss führen: Die ganze verfluchte Chose einfach abzublasen.
- Robert Rotifer, London