Politik/Ausland

Steinbrück: „Merkel betreibt Schönfärberei“

Den Herrn in schwarzem Anzug, hellem Hemd und Krawatte umschwirren TV-Kameras, Journalisten, Sicherheitsleute und Partei-Helfer. Aber auch ohne Tross wirkte er hier wie ein Fremdkörper: Die „Arminius-Markthalle“ in Moabit liegt im Zentrum des ärmsten Westbezirks von Berlin, der nur langsam vom Boom der nahen Mitte profitiert. „Marokko-Stand“, „Alimentari“-Laden und „Vietnamesisches Bistro“ unterbieten sich beim „4-Gang-Menü inkl. Getränk“ auf 6,50 Euro. Dazwischen macht nun Peer Steinbrück die Pflichtrunde.

Um 16 Uhr wird hier aber mehr getrunken als gegessen, was nicht so schöne Bilder liefert: Der „Small Talk“, wie der Mann von „Hausgemachte Konfitüre“ später sagt, wird daher an die Stände verlegt. Die Erleichterung aller ist fühlbar, als der Spitzenkandidat das in der Hallen-Mitte aufgebaute SPD- Podium besteigt und mit dem Mikro seine Rede beginnt.

50 Leute im Rentenalter, die meisten mit SPD-Sticker, sitzen vor ihm, rundum stehen 150 oft sehr junge Zuhörer, in arbeitsfähigem Alter sind nur wenige. Überraschend ist die Zahl der Medienleute: Dies ist einer der wenigen Termine Steinbrücks in der Hauptstadt. Die Wahl Moabits hat zwei Gründe, wovon Steinbrück einen nennt: Als SPD-Wahlkreiskandidatin kämpft „die Nachbarin zwei Stockwerke über mir“.

Slogan „Klartext“

Der zweite wird in dessen Zehn-Minuten-Rede klar: Er sucht verlorene SPD-Stammwähler. Hier entpuppt sich, viel drastischer als Tage zuvor im TV-Duell mit Kanzlerin Merkel, Deutschland als zutiefst ungerechtes Land. In das Steinbrück’sche Stakkato der Problemaufzählung applaudiert trotzdem keiner .

Dann inszeniert die Wahlkreis-Kandidatin, eine hier auffallend adrette Mittvierzigerin, ein Frage-Antwort-Spiel nach Steinbrücks Wahlkampfslogan „Klartext“. Weil die Zuhörer lethargisch bleiben, liefert sie routiniert die Stichworte selbst.

Was sagt er zu Syrien? „FDP-Außenminister Westerwelle sieht kaum mehr politische Lösungschancen“, zitiert ihn Steinbrück bruchstückhaft und interpretiert das als Sympathie für die US-Angriffspläne. Der anti-amerikanische Ton bringt den ersten kräftigen Applaus. Besonders von einer Gruppe der SPD-Jugend, die mehr Dritte-Welt-Hilfe fordert.

Zur Euro-Krise? Steinbrück rattert Fakten und Zahlen herunter, die nicht ganz falsch sind, aber doch anders als die von Merkel. „Sie betreibt Schönfärberei! Ohne unsere Stimmen gäbe es ihre Euro-Rettung nicht.“ Zugleich kritisiert er ihren Reformdruck auf die Hilfsempfänger als „Konsolidierungskeule für die Menschen“.

Für die verlangt er einen „Marshall-Plan, wie ihn Deutschland nach dem Krieg von den früheren Gegnern bekommen hat.“ Die Forderung im SPD-Wahlprogramm nach Übernahme der Schulden aller Euro-Länder vor allem durch den deutschen Steuerzahler erwähnt Steinbrück aber nicht. Merkel, so sein Bild, ist nur die hartherzige Verteidigerin der Kapital-Anleger und der ihnen nützenden Banken. Applaus.

Und zu Deutschland? „Was ich als Kanzler machen werde“: Die Bürgerversicherung, also eine verpflichtende Krankenkasse für alle, womit „wir Reiche zu Solidarität mit Schwächeren zwingen“. Applaus.

Eine „Mietpreis-Bremse, weil die Mieten unbezahlbar werden“. Applaus. Merkels Familiengeld für Mütter, die „nur ihre Kinder betreuen, statt zu arbeiten“ will er abschaffen. Auch das helfe nur Besserverdienern. Applaus.

„Steuererhöhungen für Reiche, kein Pardon für Steuerflüchtlinge und Steuern für internationale Konzerne, die hier keine zahlen“. Das lässt das Publikum so richtig nicken, dessen gesamte Steuerkraft kaum an die des Redners heranreichen dürfte.

Applaus vom Milieu

Kaum ein Wort verliert er über die Schulden des Staates und deren von Merkel doch eingebremste Dynamik. Für die überwiegenden Transferempfänger hier ist das wohl kein tolles Thema. Lieber holt sich Steinbrück noch einen Applaus, als er auf die Frage der ihre schwarzen „One World“-Luftballons haltenden SPD-Jungaktivisten die „Verdoppelung der Entwicklungshilfe“ verspricht. Als Finanzminister Merkels hatte er das so boykottiert wie seine nun beklatschten Forderungen nach dem „flächendeckenden Mindestlohn“ und der „Finanzmarktsteuer“.

Die Glaubwürdigkeitslücke mag Steinbrücks Hauptproblem in den Umfragen sein, im Herzen Moabits ist sie keines. Sein vom TV-Duell leicht gemildertes Dauertief lässt sich in diesem Altberliner „Milliöh“ leichter verdrängen – auch wenn nach 70 Minuten geballter Steinbrück-Rhetorik nur mehr 120 Zuhörer ausharren.

Einige werden mit Händeschütteln belohnt. Dann sinkt der Mann, der einst Merkel die Wähler der Mitte mit Wirtschaftskompetenz abjagen wollte, sichtbar erleichtert in die gepanzerte Limousine, die ihn ins vertraute Regierungsviertel zurückfährt.

Alles rund um die deutsche Bundestagswahl gibt es hier.

Eineinhalb Wochen vor der Bundestagswahl kann sich die SPD leicht von ihrem Dauertief erholen. In der sogenannten Sonntagsfrage des Forsa-Instituts für stern und RTL verbessert sie sich um zwei Punkte auf 27 Prozent. Forsa-Chef Manfred Güllner schreibt dies wie seine Kollegen dem besser als erwarteten Abschneiden Steinbrücks beim TV-Duell gegen Kanzlerin Merkel zu.

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Weit mehr als diese kleinen Verschiebungen verblüfft aber der rasche Absturz der Grünen: Sie kommen zum ersten Mal seit Mai 2009 nur mehr auf einen einstelligen Wert, nämlich neun Prozent. Noch vor fünf Monaten lagen sie bei 16 Prozent, vor zwei Jahren während der Fukushima-Katastrophe bei 25 Prozent.

Als Hauptgründe sehen die Wahlforscher ihr drastisches Steuererhöhungsprogramm, das auch viele Sympathisanten der Partei treffen würde. Auch schade ihnen die Diskussion um die Bevormundung der Bürger anhand ihres Vorschlags eines „veggie days“, eines fleischlosen Tages für alle Kantinen des Landes. Damit stagniert Rot-Grün weiterhin.

Die Koalition Merkels mit der FDP könnte sich laut Forsa mit hauchdünnem Vorsprung halten. Weil sich die FDP über fünf Prozent stabilisiert, kommt sie trotz des CDU-Verlustes von einem Punkt auf 39 Prozent auf eine knappe Regierungsmehrheit.