Die Suche nach den Ursachen für Gewalt in Serbien
Um 08:40 Uhr betrat ein 13-Jähriger seine Schule in der Innenstadt Belgrads. Statt Schulbüchern und Stiften hatte er eine Waffe und Molotowcocktails dabei. Zuvor hatte er eine Liste mit Namen von Mitschülern angelegt, die er umbringen wollte.
Es dauerte nicht lang. Ein paar Minuten später rief der Täter selbst die Polizei an und gab bekannt, dass er „auf mehrere Personen“ geschossen habe. Er ermordete acht Kinder und den Schulwart.
Mit Vater am Schießstand
Am Tag nach der Tat wurde bekannt, dass die Waffe dem Vater des Täters gehören soll, der wiederum einen gültigen Waffenschein besitzen soll. Der Bursche hätte aber keinen Zugang bekommen dürfen.
Der Sohn sei auch mit dem Vater zum Schießstand gegangen, wo er – wie die Ermittlungen zeigten – Schießen geübt hat.
„Westliche Werte“
Wenige Stunden nach dem Amoklauf empörte der serbische Bildungsminister Branko Ružić in einer Pressekonferenz. Dabei wies er die Schuld von sich und nahm auch die Regierung in Schutz: Das System habe nicht versagt, sagte er – und fand die Schuld woanders: „Evident ist der krebserregende, tödliche Einfluss des Internets, der Video-Spiele, der sogenannten ,westlichen Werte’“, sagte der 47-Jährige.
Vedran Džihić, Balkanexperte vom Österreichischen Institut für Internationale Politik, sieht andere Gründe für die Gewalteskalation. Er macht die Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, die auch nach den blutigen Jugoslawienkriegen über Medien und Politik aufrecht blieben, dafür verantwortlich. „Es kam zu einer Diffusion der Gewalt in breiten Teilen der Gesellschaft. Das führt schlussendlich zu Gewalttaten wie jenen am Mittwoch“, sagt der Balkanexperte im Gespräch mit dem KURIER.
Weltweit auf Platz drei
Dazu kommt, dass die Verherrlichung von Kriegsverbrechern in Serbien keine Seltenheit ist. Ebenso wie die Stilisierung von Gewalt und traditionellen Männlichkeitsbildern: Selbst Präsident Aleksandar Vučić posiert regelmäßig mit Waffensystemen oder prahlt über die serbische Armee.
Auch der leichte Zugang zu Waffen spielt eine Rolle. Laut der Small Arms Survey, einer Untersuchung aus dem Jahr 2018, liegt Serbien mit schätzungsweise 39 Schusswaffen pro 100 Einwohner im globalen Vergleich zusammen mit Montenegro – nach den USA und dem Bürgerkriegsland Jemen.
Illegale Waffen
Die gesamte Region sei laut Experten nach den Kriegen in Kroatien, Bosnien und im Kosovo mit Hunderttausenden von illegalen Waffen überschwemmt worden. Gesetzlich ist der Besitz einer Waffe aber streng geregelt.
So muss eine gründliche polizeiliche Überprüfung durchgeführt werden. Eine ärztliche Untersuchung ist ebenso vorgeschrieben und muss alle fünf Jahre wiederholt werden.
Viele Femizide
Džihić sagt allerdings, dass die „Kultur der Gewalt“ in der Gesellschaft am Balkan keine historische Konstante sei. Die Stilisierung von Gewalt habe aber noch einen anderen, traurigen Effekt, sagt er: „Durch die gewaltgeladenen Männlichkeitsbilder wird ein Umfeld geschaffen, in dem es vermehrt zu Femiziden im Land kommt.“
Serbien führt die Liste in der Region deutlich an: Fast die Hälfte aller Femizide am Westbalkan fanden 2021 hier statt.