Politik/Ausland

Verbreitete Angst nach Nemzow-Mord

Die Schlange der Trauergäste vor dem regimekritischen Moskauer Sacharow-Zentrum, wo die Öffentlichkeit sich gestern von dem Freitag erschossenen Oppositionsführer Boris Nemzow verabschiedete, war über einen Kilometer lang. Witwe und Tochter von Boris Jelzin, Russlands erstem Präsidenten, der Nemzow 1997 zum Vizepremier ernannt hatte, erwiesen dem Toten die letzte Ehre, ebenso politische Schwergewichte der damaligen Zeit. Gekommen war auch Ex-Finanzminister Alexei Kudrin, der trotz handfester Differenzen mit Präsident Wladimir Putin nach wie vor zu dessen Freundeskreis zählt.

Gefehlt hat der polnische Senatspräsident Bodgan Borusewicz: Er wollte an der Trauerfeier teilnehmen, Russland verweigerte ihm aber das Einreisevisum. Was eine harsche Protestnote des Außenministeriums in Warschau zur Folge hatte. Und Borusewicz warf Putin vor, Russland in Richtung Diktatur zu führen.

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Vertreten waren sogar Russlands Kommunisten, die zu Lebzeiten Nemzows für diesen kein gutes Wort übrig hatten. Jetzt nehmen sie den Anschlag sogar zum Anlass für Forderungen nach Wiedereinführung der Todesstrafe, die Russland mit Beitritt zum Europarat 1996 per Moratorium aussetzte.

Die Schüsse auf Nemzow, so KP-Chefjurist Wadim Solowjow, seien der Auftakt zum Wahlkampf gewesen. Weitere würde es im Vorfeld der Duma-Wahlen Ende 2016 geben. Lebenslänglich reiche daher bei politisch motivierten Morden als Abschreckung nicht. Auch müssten Polizei und Geheimdienste personell aufgestockt und ihre Kompetenzen erweitert werden. Zumal wegen der Wirtschaftskrise ein Rückfall in die rekordverdächtige Kriminalität der wilden Neunziger drohe.

Kritische Beobachter vermuten Rückendeckung von ganz oben für die KP-Forderungen nach hartem Durchgreifen. Schon bei Stalins Terror, warnte Montag Nemzows Kampfgefährte Georgi Bowt, habe ein Attentat auf einen Revolutionsführer als Anlass dafür herhalten müssen. Parallelen zu heute würden sich aufdrängen.

Ähnliche Befürchtungen treiben offenbar auch andere Granden der Jelzin-Ära um. Kritische Medien in Moskau zitierten Ex-Vizepremier Alfred Koch aus der deutschen Bild: Koch, einst für Medien zuständig, die unter ihm eine relativ gute Zeit hatten, fürchtet, er könnte der Nächste sein, den das Regime zur Strecke bringt.

Die Augenzeugin des Attentats – das ukrainische Model, das bei den Schüssen an Nemzows Seite war und behauptet, sie sei von den Fahndern in Moskau gegen ihren Willen festgehalten worden – flog indes Dienstag Früh nach Kiew zurück, will aber weiter mit den Ermittlern kooperieren. Viel Erleuchtung dürfte von ihr nicht kommen. Bei einem Interview für Radio Echo Moskwy stammelte Anna Durizka bei allen konkreten Fragen wirr etwas von anhaltender Schockwirkung.