Politik/Ausland

"Die laufen weg – wir nicht"

Waleri und Igor trinken Tee im dritten Stock des Da-Vinci-Hauses. Sie sitzen auf einem staubigen Sofa, die Fenster sind mit Türen und Brettern vernagelt. Es riecht nach feuchtem Mauerwerk. Der Fernseher läuft – OPLOT. Der Sender der Separatisten. Ukrainisches TV gibt es hier nicht – dafür ein russisches Mobilfunknetz. Ein verwundeter Soldat wird interviewt. Sein Kopf ist einbandagiert. Draußen kracht und grollt es unaufhörlich, mal weiter entfernt, mal sehr nah. Geschütze, Gewehrfeuer, Mörser, Granatwerfer. Im Nachbarzimmer ein Knall. "Da schießt nur einer aus dem Fenster", sagt Igor – ein Hüne – mit beschwichtigender Geste. Die beiden verziehen keine Miene. Sie sitzen ja im Da-Vinci-Haus – und da in einem der hinteren Zimmer. "Da ist es sicher", sagen sie.

Es ist sehr ruhig heute, sagt einer, der gerade ein Maschinengewehr putzt, in einem der vorderen Zimmer. Draußen knallt es. Im Radio läuft eine Liebesschnulze. Sehr oft sei es sehr langweilig hier, sagt er. "Oh ja", allgemeines Nicken.

Schützen im Wohnsilo

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Das Da-Vinci-Haus ist das höchste Gebäude in Pesky – einem kleinen Dorf nahe dem Flughafen von Donezk. Benannt hat es ein junger Kämpfer, ein Maler. Er war der Erste hier, sagt er. Und weil er Da Vinci liebe, habe er es eben so benannt. Es ist ein schwer von Kämpfen gezeichnetes sowjetischer Wohnsilo. Pesky ist die einzige Verbindungsstelle zwischen Gebieten in der Hand der ukrainischen Einheiten und den verbliebenen Kämpfern im Flughafen von Donezk selbst. Es sind vor allem Kämpfer des Rechten Sektors, einer nationalistischen Miliz, die diese Stellung halten. Tagsüber gibt es kleinere Artilleriegefechte, beide Seiten beschießen einander von ihren Positionen aus, in der Nacht geht es Mann gegen Mann zur Sache. "Das ist Routine", sagt Igor.

Hier ist die Front. Ins von den Separatisten ausgerufene Neurussland sind es nur wenige Hundert Meter. Zerstörte Häuser, ein ausgebrannter Panzer, verlassene Dörfer zieren über mehr als zehn Kilometer die Straße in das Dorf vom Westen her.

Yan hat einen dicken Sack auf einen kleinen Schlitten geladen. Er geht entlang der Straße nahe des Hauptplatzes von Pesky. Er bringe Essen zu seiner Mutter. Die lebt etwas weiter von der Front entfernt auch noch in dem Dorf – im Haus einstiger Nachbarn. Das ihre wurde von einer Granate getroffen. Weg könne er nicht, sagt der Mann um die 60. Seine 93-jährige Mutter könne er nicht wegbringen. Kein Gas, kein Strom, ständiger Beschuss. 3000 Einwohner hatte das Dorf. 67 sind noch hier auf der ukrainischen Seite, 40 auf der der Separatisten und einige direkt zwischen den Fronten. Yan sagt: "Ich vertraue auf Gott." Zwei Mal wurde er bereits verwundet. Einmal an der Hand, einmal am Kopf. "Meine Zeit ist noch nicht gekommen." Er geht weiter. Es kracht auf dem Hauptplatz. Igor sagt: "Keine Angst, das geht nur raus, nicht rein." Yan trottet unbeirrt weiter, zieht den Schlitten hinter sich her.

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Daheim in Iwano Frankiwsk hat Igor zwei Reitponys in einem Park für Kinder, einige Schafe, Ziegen. Er ist ehemaliger Fallschirmjäger. Seiner Frau hat er nicht gesagt, wo er hingeht, und einmal drei Tage lang das Telefon abgedreht. Wenn er nach Hause komme, wisse er nicht, was er zu sehen bekommen werde. "Ich hatte eine Familie", sagt ein anderer Kämpfer, "jetzt nicht mehr – Gott sei Dank." Und ein dritter, der nach einer schweren Verletzung wieder hier ist, sagt: "Diese Leute" – er zeigt in die Runde seiner Kameraden – "sind meine Brüder, nicht die, die daheim sind."

Waleri kaut ein Zuckerl. Im TV wird eine Ärztin interviewt, wohl jene, die den Verwundeten von vorher bandagiert hat. "Die Menschen in der Ukraine wissen nicht, was hier passiert", sagt er. "Sie trinken Kaffee, gehen in Klubs, leben ihr Leben weiter – aber es ist Krieg in diesem Land – einfach Krieg."

Es ist Krieg, aber die ukrainische Armee ist nicht zu sehen hier. Unterversorgt, schlecht ausgerüstet hat sie andere Positionen bezogen.

KURIER-Reportage-Reise

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Bunter Haufen

"Die trinken nur, laufen weg – wir nicht", so das Urteil eines Freiwilligen in Pesky. Viele sind vom Rechten Sektor, einige von anderen Gruppen, einer nennt sich "Anarchist". Sie bringen ihre eigene Ausrüstung, werden von zivilen Freiwilligen versorgt. Auf ihr Kriegsgerät angesprochen, sagen sie knapp: "Erbeutet". Sie haben Panzerfäuste, einige rückstoßfreie Geschütze, automatische Granatwerfer, Mörser, ein Maschinengewehr sowjetischer Bauart aus dem Zweiten Weltkrieg und vieles mehr. Aber kein schweres Gerät. Das hat die Armee.

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Ein Kommandant in Pesky drückt es so aus: "Meistens wird der Rechte Sektor aktiv, aber in Absprache mit der Armee." Es folgt eine Pause: "Oder auch nicht." Dass sich mit Kriegsgerät bewaffnete Zivilpersonen an sich im Illegal befinden, kommentiert einer so: "Wir haben kein Problem mit der Polizei, die haben Angst vor uns." Und außerdem, und das sagen alle: Man kämpfe ja nicht für die Regierung oder die ukrainischen Behörden, sondern für das Land. "Unser Land."

Dieser Kampf ist zu einem "Stellungskrieg" geworden, wie ein Kommandant sagt. "Wir bewegen uns nicht." Wieso? "Es ist ja Waffenstillstand." Schweigen. Ein vielsagender Grinser. Ein anderer Kämpfer an einem Maschinengewehr-Posten nennt den Waffenstillstand einfach "Bullshit".

Vor Pesky befindet sich die Republik der Brücke. So heißt ein Kontrollposten unter einer durch Artillerie-Einschläge löchrigen Autobahnbrücke. Oben sind die Maschinengewehrnester, unten wird Suppe gegessen. Sergej hackt Holz. Er ist Archäologe, aus Jalta auf der Krim, und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Als die Russen kamen, ist er mit seiner Familie gegangen. Seine Familie hat er in Dnepropetrowsk gelassen. Als was dieser Krieg einmal in die Geschichte eingehen wird? "Wenn wir gewinnen, wird man ihn den ukrainischen Befreiungskrieg von Russland nennen", sagt Sergej. "Wenn wir verlieren, wird es heißen, Russland habe einen illegitimen Aufstand niedergeschlagen."

In der Nacht darauf sterben fünf Soldaten in Pesky. In der Nacht auf Donnerstag sind es drei.

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Die Waffenruhe im Osten der Ukraine wird nach Angaben des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko mittlerweile eingehalten. Er habe "gute Neuigkeiten", sagte Poroschenko am Freitag im australischen Sydney. Es sei "das erste Mal seit sieben Monaten", dass in den vergangenen 24 Stunden die Waffen geschwiegen hätten und kein ukrainischer Soldat getötet oder verletzt worden sei, sagte er.

Poroschenko sprach von einer "echten" Waffenruhe. Noch am Donnerstagmittag hatte die ukrainische Armee in einer Bilanz mitgeteilt, dass trotz der vereinbarten Waffenruhe zuvor binnen 24 Stunden drei Soldaten getötet und acht weitere verletzt worden waren. Poroschenkos Worten zufolge beruhigte sich die Lage dann anschließend. Die Feuerpause hatte am Dienstag begonnen, sich aber rasch als brüchig erwiesen. In der Ostukraine kämpfen derzeit ukrainische Soldaten gegen prorussische Separatisten.

Russland veranstaltet Manöver

Unterdessen veranstaltet Russland nach polnischen Angaben vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise in einem noch nie da gewesenen Ausmaß Manöver in der Ostsee. In den vergangenen Tagen habe Polen dort eine enorme Aktivität der russischen Marine und Luftwaffe registriert, sagte Verteidigungsminister Tomasz Siemoniak am Donnerstag dem Fernsehsender TVN24.

"Wir sind deswegen besorgt", sagte Siemoniak. Polen, das der NATO angehört, sehe aber keine Gefahr eines Angriffs. Die russischen Militärübungen dienten sehr wahrscheinlich dazu, zu testen, wie die NATO-Truppen in der Region reagierten, sagte er.

Auch die NATO hat seit Beginn der Ukraine-Krise eine erhöhte Aktivität des russischen Militärs, insbesondere der Luftwaffe, in der Ostsee-Region ausgemacht. Das Militärbündnis hat dort seine Patrouillen ausgeweitet, nachdem Russland die ukrainische Halbinsel Krim im März annektiert hatte.

Russland wirft der NATO vor, mit einer Verstärkung ihrer Präsenz an den russischen Grenzen verschärfe sie die Spannungen. Die NATO dagegen argumentiert, solche Maßnahmen dienten der Sicherheit ihrer osteuropäischen Mitgliedsstaaten, die befürchteten, sie könnten das nächste Ziel Russlands sein.