Politik/Ausland

"Rente mit 63": Heftige Kritik an Reformen der Koalition

Gerecht“ war das mit Abstand häufigste Wort von Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), als sie am Mittwoch ihren Gesetzesentwurf zur Rentenreform vorstellte, den danach die Bundesregierung beschloss. Es ist das erste wichtige Gesetz der neuen Koalition und die umstrittenste Reform der Altersversorgung der letzten Jahre. Und das, obwohl sie von der Großen Koalition von Kanzlerin Merkel getragen wird, die sie in ihrer anschließenden Regierungserklärung im Bundestag entschieden verteidigte.

Beide Regierungsparteien haben in dem Reformpaket ihre wichtigsten sozialen Anliegen verwirklicht, die sie im Wahlkampf noch gegenseitig erbittert bekämpft und als unfinanzierbar dagestellt hatten: Das der Union war es, auch die Mütter, die ihre Kinder vor 1992 erzogen, mit einem Rentenzuschlag zu belohnen. Sie erhalten nun pro Kind rund 330 Euro mehr im Jahr und damit zumindest die Hälfte des Rentenzuschlags, den jüngere Mütter bekommen.

Die SPD setzte durch, dass Arbeitnehmer nach 45 Jahren Beschäftigung mit 63 abschlagsfrei in Rente gehen können. Und das auch dann, wenn sie zwischendurch häufig arbeitslos waren. Dies war seit der stufenweisen Einführung der „Rente mit 67“ durch SPD-Sozialminister Franz Müntefering 2008 in der ersten Großen Koalition Merkels nicht mehr möglich: Betroffene müssen seither länger arbeiten oder bekommen weniger Rente.

Die Kosten sind auch weiter der kritische Punkt. Die Berechnungen gehen im Mittel von sechs Milliarden Euro jährlich mehr für die Mütterrenten und zwei Milliarden für die „Rente mit 63“ aus. Bei ersterer mit sinkender, bei letzterer schon ab 2016 mit stark steigender Tendenz. Insgesamt soll das Paket in den nächsten 15 Jahren gut 160 Milliarden Euro kosten.

Junge zahlen

Um die zu finanzieren, hat die Regierung die im Rentengesetz heuer vorgesehene Reduzierung der Beiträge der aktiven Arbeitnehmer um 0,8 Prozent gestoppt, sie bleiben bei 19 Prozent vom Bruttolohn. Trotzdem rechnen alle Experten damit, dass die in der derzeit hohen Beschäftigung angehäuften Reserven der Rentenkassen nun früher aufgezehrt werden. Danach sei die Erhöhung der Rentenbeiträge aktiver Arbeitnehmer so wahrscheinlich wie ein noch höherer Steuergeldzuschuss. Das räumte auch Nahles vor der Presse gerne ein: Ihre SPD hatte im Wahlkampf Steuererhöhungen gefordert, die Union sie als ihr Hauptversprechen seither verhindert.

Opposition, Wirtschaft und Wissenschaft kritisierten das Rentenpaket: Es sei ein Köder für Wähler über 60, die zu den verlässlichsten der Großparteien gehören und schon ein Drittel der Stimmen stellen. Die „Rente mit 63“ treffe die Jungen , sie mache ein Herzstück der Reformen, mit denen Deutschland wieder zum Wirtschaftsmotor der EU wurde, rückgängig, so die Wirtschaft.

Auch Merkels Vorgänger Gerhard Schröder, der als SPD-Kanzler viele Reformen durchgesetzt hatte, kritisierte Merkel und die eigene Partei, was er sehr selten tut: Die Rente mit 63 sei „ein absolut falsches Signal“ , auch für die Reform-resistenten Euro-Südländer, zitierte Bild zeitgerecht aus einem unveröffentlichten Buch Schröders: Sie nutze nur Facharbeitern und kaum Frauen, höhere Steuern seien absehbar.

Nahles und Merkel wiesen auch diese Kritik zurück: Deutschland könne sich das leisten und werde dadurch „noch etwas gerechter“.

Schuldenkrise Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat davor gewarnt, in den Anstrengungen zur Überwindung der Finanz-und Schuldenkrise nachzulassen. "Auch wenn die europäische Staatsschuldenkrise nicht mehr täglich die Schlagzeilen bestimmt, so müssen wir doch sehen, dass sie allenfalls unter Kontrolle ist", sagte Merkel am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Bundestag.

"Dauerhaft und nachhaltig überwunden ist sie damit noch nicht", fügte die Kanzlerin hinzu. Die wirtschaftspolitische Koordinierung in Europa sei nach wie vor "überaus mangelhaft". Die Regierungschefin mahnte: "Ohne entscheidende Fortschritte, ohne einen Quantensprung hier, werden wir die europäische Staatsschuldenkrise nicht überwinden."

Merkel pochte auch auf Fortschritte bei der Regulierung der Finanzmärkte, die ihren Namen wirklich verdienten. Das Versprechen an die Menschen sei, dass sich eine solch verheerende Finanzkrise nicht wiederholen dürfe. Dies bedeute: "Wer ein Risiko eingeht, der haftet auch für die Verluste und nicht mehr der Steuerzahler."

Ukraine Merkel stärkte außerdem den Regierungsgegnern in der Ukraine den Rücken. "Sie setzen sich für die gleichen Werte ein, die auch uns in der Europäischen Union leiten", sagte Merkel am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Deutschen Bundestag. Sie würdigte den Mut der Demonstranten, rief aber zugleich zu einer friedlichen Lösung des Konflikts auf.

Merkel sagte, dass durch den Druck der Demonstranten nun offensichtlich ernsthafte politische Gespräche mit Präsident Viktor Janukowitsch über notwendige politische Reformen möglich seien. Die Tür zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU stehe der Ukraine weiter offen. Das Entweder-Oder einer Partnerschaft zu Europa oder zu Russland müsse überwunden werden. In "geduldigen Verhandlungen" werde dies auch möglich sein.

Energiewende Merkel hat zur Umsetzung der Energiewende einen nationalen Kraftakt angemahnt. "Wenn es eine politische Aufgabe gibt, bei der nicht Partikularinteressen im Mittelpunkt zu stehen haben, sondern der Mensch, dann ist es die Energiewende", sagte Merkel. Das Vorhaben könne nur gelingen, wenn Bund, Länder, Gemeinden, Verbände und jeder Einzelne über ihren Schatten sprängen und nur das Gemeinwesen im Blick hätten.

Die Kanzlerin mahnte, die Welt schaue mit einer Mischung aus Unverständnis und Neugier, ob und wie Deutschland die Energiewende hinbekomme. Wenn sie gelinge, werde sie aber zu einem "weiteren deutschen Exportschlager". Merkel fügte hinzu: "Wenn es einem Land gelingen kann, dann ist es Deutschland."

NSA Angela Merkel hat zudem mit ungewöhnlich deutlichen Worten die USA vor weiteren Ausspähaktionen ihrer Geheimdienste gewarnt. "Ein Vorgehen, bei dem der Zweck die Mittel heiligt, (...), verletzt Vertrauen, es sät Misstrauen", sagte sie am Mittwoch. Vertrauen aber sei der Kern der Zusammenarbeit mit den Partnern. Am Ende stehe nicht mehr, sondern weniger Sicherheit. Zugleich warnte Merkel davor, an anderer Stelle der Zusammenarbeit mit den USA den Hebel anzusetzen. "Trotzhaltung hat noch nie zum Erfolg geführt", sagte sie. Damit reagierte sie auf die Debatte, in der unter anderem ein Aussetzen der Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen der EU mit den USA gefordert wird.

Zuwanderung Zum kontroversen Thema Zuwanderung sagte Merkel, es müsse rechtlich geklärt werden, wer aus Europa unter welchen Bedingungen Anspruch auf deutsche Sozialleistungen hat. Durch die Freizügigkeit von Arbeitnehmern in Europa dürfe es faktisch nicht zu einer Einwanderung in die Sozialsysteme kommen, betonte sie.

Deutschland sei auf Zuwanderung angewiesen. Die Chancen der Freizügigkeit sollten genutzt werden. Jedoch dürften die Augen "vor ihrem möglichen Missbrauch" nicht verschlossen werden, meinte die Kanzlerin.

Militär Merkel bekräftigte, dass Deutschland zu einem stärkeren militärischen Engagement in Afrika bereit sei. Im westafrikanischen Mali werde die Beteiligung an einer EU-Ausbildungsmission mit derzeit rund 100 deutschen Soldaten sogar erweitert, sagte sie.

Zudem werde gegebenenfalls der Einsatz zur Beilegung des blutigen Konflikts in der Zentralafrikanischen Republik mit medizinischer Hilfe unterstützt. "Hierbei geht es nicht um einen deutschen Kampfeinsatz", betonte Merkel.

Mindestlohn Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Arbeitgeber und Gewerkschaften aufgefordert, noch in diesem Jahr zu prüfen, in welchen Bereichen ein schneller Mindestlohn von 8,50 Euro bestehende Arbeitsplätze gefährden könnte. Der von der Großen Koalition vereinbarte allgemeine Mindestlohn von 8,50 Euro gelte ab 2015, sagte Merkel in einer Regierungserklärung am Mittwoch in Berlin.

"Allerdings haben wir vereinbart, dass Tarifverträge dort, wo sie mit einer Lohnuntergrenze von weniger als 8,50 Euro vereinbart wurden, bis Ende 2016 weiter gelten können." Solche Tarifverträge könnten noch in diesem Jahr neu abgeschlossen werde. "Ich sage ganz ausdrücklich: Arbeitgeber und Gewerkschaften haben damit alle Freiheit und Möglichkeit, davon Gebrauch zu machen, wo immer dies für den Erhalt von Arbeitsplätzen notwendig ist", sagte die CDU-Vorsitzende.

Merkel betonte, dass CDU, CSU und SPD in den Koalitionsverhandlungen einen Kompromiss gefunden hätten, bei dem "die Vorteile die Nachteile überwiegen". Man habe sicherstellen müssen, dass der nachvollziehbare Wunsch nach einer würdigen Bezahlung "nicht Menschen, die heute Arbeit haben, in die Arbeitslosigkeit führt".

Wirtschaftsvertreter sowie ostdeutsche CDU-Politiker hatten kritisiert, dass der flächendeckende Mindestlohn ab 2017 vor allem in den Grenzgebieten zu Polen und Tschechien wegen des großen Lohngefälles zu den östlichen EU-Nachbarn zum Abbau bisher niedrig bezahlter Arbeitskräfte führen werde.