Petition: Über zwei Millionen Briten fordern Exit vom Brexit
Viele Briten scheinen inzwischen das Gezerre um den EU-Austritt sattzuhaben. Eine Online-Petition soll die britischen Parlamentarier dazu bringen, den Brexit abzusagen. Mehr als 2,6 Millionen Menschen unterzeichneten bis Freitagvormittag bereits die Petition und es werden stündlich mehr.
"Widerruft Artikel 50 und bleibt in der EU" fodert die auf der Internetseite des Unterhauses hochgeladene Petition, die innerhalb kürzester Zeit bereits Hunderttausende Briten unterzeichneten. Zeitweise war die Webseite wegen des Ansturms nicht zu erreichen.
"Die Regierung behauptet immer wieder, der Austritt aus der EU sei "der Wille des Volkes". Wir müssen dieser Behauptung ein Ende setzen, indem wir die Stärke der öffentlichen Unterstützung für den Verbleib in der EU deutlich machen", heißt es in dem Petititonstext. Der Brexit müsse deshalb abgesagt werden und Großbritannien in der Europäischen Union bleiben.
Das Parlament muss den Inhalt jeder Petition mit mehr als 100.000 Unterzeichnern für eine Debatte berücksichtigen.
Großbritannien kann die Erklärung zum EU-Austritt theoretisch einseitig zurückziehen. Den Weg hat der Europäische Gerichtshof in einem Urteil im Dezember bestätigt. Das Land bliebe dann wie bisher Mitglied der EU. Ein weiterer Austrittsantrag wäre damit nicht ausgeschlossen.
Trotzdem gilt es als äußerst unwahrscheinlich, dass es dazu kommt. Beim Referendum über den EU-Austritt im Jahr 2016 stimmten 17,4 Millionen Briten für den Brexit. Kaum ein britischer Politiker will sich über das damalige Mehrheitsvotum hinwegsetzen, ohne nicht zumindest eine zweite Volksabstimmung abzuhalten.
Mögliche Szenarien
Großbritannien sollte eigentlich am 29. März aus der EU austreten. Der EU-Gipfel einigte sich am Donnerstag auf zwei Optionen für eine Verschiebung des EU-Austritts. Sie laufen entweder auf einen geordneten Brexit im Mai hinaus oder verlangen von Großbritannien im April eine Weichenstellung in Sachen EU-Austritt, bei der ein sofortiger ungeordneter Austritt ebenso möglich wäre wie ein noch längerer oder gar dauerhafter Verbleib in der EU.
Option 1: Geordneter Brexit vor der Europawahl im Mai
Die EU gewährt eine Verschiebung des Brexit bis zum 22. Mai. Voraussetzung ist, dass das Unterhaus in der kommenden Woche dem mit der EU ausgehandelten Austrittsabkommen noch zustimmt. Eine Hürde für den Plan ist Unterhaus-Sprecher John Bercow. Er hatte am Montag eine erneute Abstimmung über den Austrittsvertrag abgelehnt, weil das Parlament nicht zweimal über die selbe Vorlage befinden könne.
Der Gipfel sagte May nun zu, Mitte März von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker gemachte Zusicherungen zum Brexit nochmals formal zu billigen. Diese rechtliche Aufwertung könnte laut EU-Diplomaten ausreichen, um eine nochmalige Abstimmung in London zu rechtfertigen.
Ziel der Verlängerung in diesem Szenario wäre es, Großbritannien genug Zeit zu geben, die Vereinbarungen im Austrittsvertrag in nationales Recht umzusetzen. Das Vereinigte Königreich würde dann am 22. Mai in einem geordneten Verfahren aus der EU austreten. Großbritannien bliebe danach noch bis Ende 2020 Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion.
Option 2: Unterhaus lehnt Austrittsvertrag erneut ab
Sollte das Unterhaus den Austrittsvertrag erneut ablehnen, ist der Stichtag der 12. April. Vor diesem Termin müsste Großbritannien "Angaben zum weiteren Vorgehen" machen, heißt es in den Gipfelschlussfolgerungen. Konkret geht es um die Entscheidung, ob das Vereinigte Königreich an der Europawahl teilnimmt oder nicht. Daraus ergeben sich verschiedene Möglichkeiten:
- Ohne Europawahl käme der ungeordnete Brexit
Großbritannien würde bei einer Entscheidung gegen Abhaltung einer Europawahl aus der EU am 12. April austreten. Es wäre dann schlagartig nicht mehr Mitglied des europäischen Binnenmarktes und der Zollunion, Beziehungen aus 46 Jahren EU-Mitgliedschaft würden schlagartig gekappt. Dies hätte weitreichende Folgen für den Reiseverkehr und die Wirtschaftsbeziehungen. Die EU bereitet deshalb seit Monaten Notfallpläne vor.
- Teilnahme an Europawahl und weitere Verschiebung
Die Briten halten wie die anderen 27 EU-Staaten bis zum 26. Mai Europawahlen ab, was May bisher strikt ablehnt. Die EU würde bei einer Wahlteilnahme über eine weitere Verschiebung entscheiden. Wie lange diese sein würde, ist unklar. Die EU-Kommission hatte diese Woche eine Verschiebung bis "mindestens" Ende 2019 empfohlen, wenn der Termin nach der Europawahl liegt. Der Zeitraum könnte demnach verkürzt werden, "wenn vor seinem Auslaufen eine Lösung gefunden wird".
- Zweites Referendum
Bei einem anhaltenden Streit über den Brexit-Kurs in Großbritannien könnte neben Neuwahlen für den Fall einer langen Verschiebung auch ein zweites Referendum über den EU-Austritt an Unterstützern gewinnen. Die oppositionelle Labour-Partei sieht eine erneute Volksabstimmung schon jetzt als möglichen Ausweg. Das Unterhaus hatte dies vergangene Woche zwar klar abgelehnt, die Labour-Abgeordneten beteiligten sich jedoch nicht. Für die Vorbereitung eines zweiten Referendums wären laut Experten fünf bis sechs Monate nötig.
- Rücknahme des Austrittsantrags
Für London besteht bis zum Austrittsdatum darüber hinaus jederzeit die Möglichkeit, den Brexit-Antrag ohne Zustimmung der EU einseitig zurückzunehmen. Dies bestätigte der Europäische Gerichtshof im Dezember. May warnt aber vor "katastrophalen" Folgen für die britische Demokratie, wenn das Brexit-Referendum von 2016 missachtet würde. Eine im Februar gestartete Online-Petition in Großbritannien zur Brexit-Rücknahme erhielt bis Freitag aber bereits mehr 2,2 Millionen Unterstützer.
Briten zwischen Sorge, Wut und Stress
Der Brexit schlägt den Briten aufs Gemüt: Fast die Hälfte verspürte ein Gefühl von Machtlosigkeit, mehr als ein Drittel (39 Prozent) macht das Herumgetue wütend, 38 Prozent sind wegen des Austritts besorgt. 17 Prozent berichteten, der Brexit verursache bei ihnen ein "hohes Stresslevel".
Lediglich neun Prozent stimmte der Brexit hoffnungsvoll, drei Prozent froh und zwei Prozent zuversichtlich, zeigt eine Umfrage im Auftrag der Mental Health Foundation. Für die YouGov-Umfrage wurden zwischen dem 12. und 13. März insgesamt 1.823 erwachsene Briten befragt.
Internationale Pressestimmen zum Brexit-Aufschub
Der Londoner Guardian kommentiert: "Theresa May hat bisweilen gesagt, dass sie die Nation einen möchte. Doch mit ihrer Fernsehansprache hat sie diesem Traum den Todesstoß versetzt. Sie ist nur an einer Hälfte des Landes interessiert. Für die andere hat sie nichts übrig. Sie behandelt Millionen von Menschen, die mit dem Brexit und ihrem Umgang damit nicht einverstanden sind, als würden sie nicht existieren. Sie hört und sieht sie nicht. Für sie sind sie einfach nicht da. Doch - dies zur Erinnerung für May - wir waren und bleiben immer da. Deshalb ist ihr Versuch, die Brexit-Krise als einen Konflikt zwischen dem Parlament und dem Volk darzustellen, eine Lüge. Er ist eine Lüge, denn die Spaltung aufgrund des Brexits verläuft tief durch die gesamte Nation, aber nicht zwischen Parlament und Volk."
Die spanische Zeitung La Vanguardia schrieb am Freitag: "Bei ihrer Ankunft beim Gipfel hatten die beiden Großen eine ähnliche Botschaft, jedoch mit unterschiedlichen Akzenten. Den bösen Polizisten gab der französische Präsident Emmanuel Macron, der das Vereinigte Königreich an die Wand stellte. (...) Macron spielte den Harten, während die deutsche Kanzlerin Angela Merkel als gute Polizistin auftrat (...). Die Botschaften der beiden sind aber nicht widersprüchlich, sondern ergänzen einander, sie sind zwei Seiten derselben Medaille, die (die britische Premierministerin Theresa) May und ihr Parlament jetzt akzeptieren oder ablehnen müssen. (...) Guter Wille ja, aber mit der gleichzeitigen Warnung, dass ohne die Zustimmung des britischen Parlaments die guten Absichten ein Ende finden."
Die konservative Zeitung Daily Telegraph kritisiert, dass May die Kontrolle über das Brexit-Datum aus der Hand gegeben habe: "Die EU übernimmt die Kontrolle über den Brexit-Zeitplan, May wird an die Seitenlinie verbannt."
Zur verfahrenen Situation in Großbritannien urteilt die italienische Zeitung La Repubblica: "Wie hat es eines der pragmatischsten Völker geschafft, das Vereinigte Königreich - Wiege der liberalen Demokratie und des glorreichen Parlaments von Westminster - in einen Irrgarten wie den Brexit zu versenken? Tausend Tage nach dem Referendum über den Ausstieg aus der EU, das das Land in einen politischen Morast gestoßen hat, gibt es sehr viele Gründe. Aber dadurch zieht sich ein roter Faden: eine unglaubliche Serie von falschen Kalkulationen und irrationalen Entscheidungen."
Die liberale Zeitung Hospodarske noviny aus Tschechien schreibt zum geplanten Austritt: "Drei Jahre sind vergangen und Großbritannien ist einer Lösung nicht näher. Wie weiter? Die am wenigsten dumme aller dummen Möglichkeiten wäre es, die Menschen erneut entscheiden zu lassen, welche Variante ihnen am liebsten ist. Es gibt ungefähr acht verschiedene Brexit-Varianten - die neunte Möglichkeit wäre, in der EU zu bleiben. (...) Selbst ein blödes Computerprogramm fragt lieber ein zweites Mal: Sind Sie sich sicher? Zudem war die ursprüngliche Brexit-Kampagne nicht nur voller Lügen, sondern auch noch negativ. Sie hat nicht ergeben, was die Nation will, sondern nur, was sie nicht will. (...) In der derzeitigen Pattsituation wäre ein zweites Referendum die einzige saubere Lösung."