Nordirak: „Genozid an Jesiden nicht vergessen“
Starker Wind weht Sand und Staub auf. Es riecht nach verbranntem Öl und Fäkalien, auf den Schotterstraßen lagert Müll, zwischen den Zelten häufen sich Plastikflaschen. Auf verwitterten Planen kann man noch die Buchstaben UNHCR entziffern. Neugier lockt drei kleine Mädchen barfuß und mit verfilztem Haar aus ihrer Behausung. Babys weinen.
Wir sind im größten offiziellen Flüchtlingslager in Khanke, in der Nähe von Dohuk (siehe Karte). Rund 17.000 Personen leben in 3120 Zelten, größtenteils jesidische Familien mit Kindern, aber auch Christen. Im Umfeld von Khanke gibt es weitere Camps mit 30.000 Flüchtlingen. Insgesamt haben seit 2014 rund 1,7 Millionen Flüchtlinge in der Autonomen Region Kurdistan (etwas kleiner als Österreich) Zuflucht gefunden. Doch jetzt wird die Lage immer prekärer. „Seit neun Monaten wird kein Essen mehr verteilt, die Mittel für Gesundheit und Bildung werden stark reduziert“, klagt Kchal Alo, der Leiter des Camps. In fünf Schulen wird tagsüber unterrichtet, zu wenig, um Tausende Kinder gut auszubilden. Die Gesundheitsversorgung ist miserabel, Leitungswasser fehlt, Strom wird angezapft.
„Die Welt schaut zu“
Josef Weidenholzer, der Vize-Fraktionschef der Europäischen Sozialdemokraten im EU-Parlament, hört Alo aufmerksam zu. Wütend stellt er fest, dass sich „die Lage der Flüchtlinge verschlechtert, und die Welt schaut zu“ (siehe Interview). Er besuchte das Camp kürzlich zum dritten Mal seit 2014. Damals ermordeten IS-Terroristen Tausende Jesiden im Sindschar-Gebirge. Frauen wurden vergewaltigt und versklavt. Die Brutalität radikaler Islamisten richtete sich auch gegen Christen und andere Minderheiten.
Auch wenn die Regierung in Bagdad Ende 2017 den Sieg über den IS und die Befreiung der von den Terroristen besetzten Gebiete verkündet hatte, von Stabilität kann keine Rede sein.
„Die Jesiden können nicht in ihre Dörfer zurückkehren. Viele Häuser sind zerstört und Zufahrtswege vermint“, sagt Haydar Şeşo, Kommandant der Jesiden-Miliz HPE zum KURIER. „Die Menschen haben Angst vor den Terroristen, sie sind noch nicht weg. Auch Erdoğan-Truppen könnten den Sindschar überfallen, so wie es auch in Afrin passierte“, fürchtet Şeşo.
Seine Soldaten tun alles, um den Jesiden im Nordirak ein halbwegs sicheres Überleben zu ermöglichen. Stolz ist er darauf, dass die jesidische Aktivistin Nadia Murad den Friedensnobelpreis für ihren Kampf gegen sexuelle Gewalt bekommen hat (sie selbst wurde vom IS entführt, sexuell ausgebeutet und gefoltert; sie flüchtete nach Deutschland). „Durch diese Auszeichnung wird der Genozid an den Jesiden nicht vergessen.“ Er selbst definiert sich als irakischer Staatsbürger mit kurdischer Sprache und jesidischer Religion.
Von der EU erwartet sich der Miliz-Chef eine „stärkere Einflussnahme auf die Mächtigen in Bagdad und Erbil, um die Minderheitenrechte im Irak durchzusetzen“.
„Keine Super-NGO“
Weil die Region strategisch so wichtig ist, hat die EU am Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2016, ein Büro in der Kurdenhauptstadt Erbil eingerichtet. „Die EU ist hier eine politische Vertretung und keine Super-NGO“, erklärt Clarisse Pásztory, EU-Vertreterin in Erbil. Dennoch ist die EU führend im humanitären Bereich, fördert die wirtschaftliche Entwicklung und den Kampf gegen Korruption.
Auch wenn die EU hier versucht, Bedingungen zu schaffen, um Menschen das Leben zu erleichtern und sie vor illegaler Migration abzuhalten, sehen Experten der American University of Kurdistan in Dohuk die Flüchtlingssituation als explosiv an.
Ein Professor, der aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden will, drückt es so aus: „Länder des Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas sind eine einzige Pufferzone für Flüchtlinge. Für viele gibt es kein Zurück in ihre Heimatländer und Europa schottet sich ab. Die Gefahr der Radikalisierung und der Überforderung der Länder ist groß.“