Politik/Ausland

Waffenruhe hielt nur wenige Minuten

Man habe "auf Beschuss der Hamas" reagiert und "zurückgeschossen", erklärt ein israelischer Armeesprecher nach dem Bruch der zweistündig angesetzten Waffenruhe im Gazastreifen. Ursprünglich hätte die Feuerpause von 13.30 Uhr Ortszeit (12.30 Uhr MESZ) bis 15.30 Uhr Ortszeit andauern sollen, um die Bergung von Opfern im Vorort Shedshaiya östlich von Gaza-Stadt zu ermöglichen. Die radikal-islamische Hamas hatte auf drängen des Internationalen Kommitees des Roten Kreuzes zugestimmt. Die palästinensische Politikerin Hanan Ashrawi wirft Israel vor, in Gaza "Massaker" anzurichten.

Fast 100 Tote

Zuvor hatte das israelische Militär die Stadt Gaza unter massiven Beschuss genommen. Nach palästinensischen Informationen sind mindestens 87 Menschen getötet und 400 seien verletzt worden. Unter den Opfern seien zahlreiche Frauen und Kinder. Die Armee beschoss den Stadtteil nach diesen Angaben mit Raketen und Granaten. Außerdem mussten tausende Palästinenser aus dem Gebiet fliehen. Es war der Angriff mit den meisten Todesopfern seit Beginn der israelischen Offensive im Gazastreifen am 8. Juli.

Augenzeugen berichteten von dramatischen Szenen in überfüllten Krankenhäusern im Gazastreifen. Die israelische Offensive in dem blockierten Palästinensergebiet hat die ohnehin schwierige humanitäre Lage weiter verschärft. Palästinensische Ärzte beklagen einen Mangel an Medikamenten und Ausrüstung bei der Behandlung der vielen Opfer.

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Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas hat als Reaktion auf die steigenden Opferzahlen im Gaza-Konflikt eine dreitägige Staatstrauer angeordnet. Das berichtete am Sonntag die Nachrichtenagentur Wafa. Palästinensische Botschaften weltweit würden in dieser Zeit ihre Flaggen auf Halbmast senken.

Massaker-Vorwurf von palästinensischer Politikerin

Unterdessen hat die palästinensische Politikerin Hanan Ashrawi Israel vorgeworfen, in Gaza ein "Massaker" anzurichten. Israel übe mit seiner Offensive im Gazastreifen "Staatsterrorismus" aus, sagte Ashrawi nach Angaben ihres Büros vom Sonntag bei einem Treffen mit dem britischen Generalkonsul Alastair McPhail in Ramallah.

Das Mitglied des Exekutivkomitees der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO rief die internationale Gemeinschaft dazu auf, "ihre Verantwortung ernst zu nehmen und sich einzumischen, um Menschenleben zu retten und israelische Verstöße und Kriegsverbrechen zu stoppen".

Bodenoffensive

Das Militär hatte bereits am Samstagabend die Bodenoffensive im Gazastreifen ausgeweitet. Nach Informationen einer Korrespondentin des arabischen Nachrichtensenders Al-Jazeera erfolte Beschuss aus Panzerkanonen. Am Sonntagvormittag haben sich dann zusätzliche Kräfte am Kampf gegen den "Terror im Gazastreifen" beteiligt.

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Israel hatte am 8. Juli erstmals wieder Stellungen der Hamas im Gazastreifen angegriffen. Ziel der nachfolgenden Bodenoffensive sei es vor allem, das verzweigte Tunnelsystem der Hamas inner- und außerhalb des Gazastreifens zu zerstören, hieß es. Der israelische Militärsprecher Peter Lerner hatte angeküdigt mehrere Soldaten in größere Gebiete zu entsenden.

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Aber bei der Suche nach Tunneleingängen leistet die Hamas heftigen Widerstand. "Hamas versucht, diese Tunnels zu retten", erklärte Lerner. "Sie versuchen, uns an der Zerstörung zu hindern." Es gebe schwere Gefechte mit militanten Palästinensern an verschiedenen Orten. Bisher seien 14 Tunnel mit 36 Zugangspunkten gefunden worden. Sie sollten nach gründlicher Untersuchung mit Sprengstoff zum Einstürzen gebracht werden. "Einige dieser Tunnel sind eigentlich Bunker", sagte der Militärsprecher. Es seien dort auch viele Waffen gelagert worden.

Der Raketenbeschuss gegen Israels sei zwar etwas schwächer geworden, die Hamas verfüge jedoch weiterhin über etwa 5000 Raketen verschiedener Reichweite, sagte Lerner.

Internationale Bemühungen

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon hat am Sonntag seine Vermittlungsbemühungen im Konflikt zwischen Israel und der Hamas in der katarischen Hauptstadt Doha begonnen. Ban wird danach nach Kuwait, Kairo, Jerusalem, Ramallah im Westjordanland und in die jordanische Hauptstadt Amman fahren. Ziel der Reise sei es, Israelis und Palästinensern zu helfen, die Gewalt zu beenden. Bisher hatte die führende Elite der Hamas eine Waffenruhe kategorische abgelehnt.

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Ebenfalls in Katar trifft Abbas am Sonntag Hamas-Exil-Chef Khaled Mashaal zu Beratungen über eine Feuerpause im Konflikt mit Israel. Dies berichteten der Hamas im Gazastreifen nahe stehende Quellen und palästinensische Internetseiten. Mashaal lebt in Katar.

Ägypten warb für seinen Fahrplan für eine Waffenruhe, ohne Bereitschaft zu einem Nachbessern gezeigt zu haben. Der am Dienstag vorgelegte Entwurf hatte die Wünsche der Hamas nicht berücksichtigt und war von dieser abgelehnt worden. "Wir werden den Plan weiter anbieten und hoffen, sobald wie möglich Unterstützung dafür zu bekommen", erklärte Außenminister Sami Shukri bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem französischen Amtskollegen Laurent Fabius in Kairo.

Drastischer Anstieg von Flüchtlingen

Für die Zivilbevölkerung in Gaza wird die humanitäre Lage immer unerträglicher. Zur permanenten Todes- und Verletzungsgefahr gesellen sich lang anhaltende Stromausfälle und der Zusammenbruch der Wasserversorgung. Immer mehr Menschen fliehen vor den israelischen Angriffen. 61 500 Palästinenser hätten in den Schulen des Flüchtlingshilfswerks UNRWA Schutz gesucht, teilte UNRWA-Sprecher Chris Gunness am Samstag mit. Das seien mehr als beim letzten großen bewaffneten Konflikt in Gaza um die Jahreswende 2008/09.

Auslöser der jüngsten Eskalation der Gewalt waren die Entführung und Ermordung von drei israelischen Teenagern und der mutmaßliche Rachemord an einem palästinensischen Jugendlichen. Eine 2012 vereinbarte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas, die seit 2007 im Gazastreifen herrscht, wurde daraufhin endgültig Makulatur.

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In der Nacht am 9. Januar 2009 schläft die Salha Familie in ihrem Haus im Gazastreifen. Unterdessen attackiert Israels Militär ausgesuchte, militante Ziele - von Hamas bewohnte Gebäude zum Beispiel. Um etwa drei Uhr morgens durchbricht eine nicht-explosive Rakete das Dach des Hauses und landet in einem der Zimmer. Was die Familie nicht weiß, die Rakete ist eine Warnung und in nur drei Minuten wird eine weitere, diesmal explosive, Rakete das Gebäude zerstören.

Die Zeit vergeht, die Familie entscheidet, ohne zu wissen was folgt, das Haus zu verlassen. Während der ersten Gruppe die Flucht ins Freie gelingt, erreicht der zweite Teil der Familie Salha bloß das Erdgeschoß. Sechs Familienmitglieder werden beim Angriff getötet.

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Vorwarnsystem

Seit Jahren bedient sich Israel Warnmethoden, um zivile Opfer zu vermeiden. Mit automatisierten Telefonanrufen informiert man die Bewohner, sie hätten ein paar Minuten Zeit ihre Sachen einzupacken und das Gebäude schnellstmöglich zu verlassen. Auch im Vorhinein abgeworfene Flugblätter stellen ein adäquates Vorwarnsystem dar.

Bei der Operation "Gegossenes Blei" vom Dezember 2008 bis Jänner 2009 wurde zum ersten Mal ein "roof knock" (Deutsch: Dachklopfer) angewandt. Mithilfe einer nicht-explosiven Rakete, die von einer Drohne auf das Dach des Zielobjektes abgefeuert wird, werden Zivilisten aufgefordert das Haus zu verlassen. Nach drei Minuten wird das Gebäude von Israels Luftwaffe bombardiert.

Operation "Fels in der Brandung"

Fünf Jahre später habe sich weder bei der Taktik noch bei den Konsequenzen etwas geändert, erklärt der israelische Architekt und Schriftsteller Eyal Weizman gegenüber der englischsprachigen Version der Al Jazeera. Mit einem Team von der Universität Goldsmith in London hat er auf Anfrage der Vereinten Nationen (UN) die "roof knock"-Methode untersucht und kommt zum Schluss: die IDF (Israel Defense Forces) hat ein Werkzeug gefunden, das auch Angriffsziele (Gebäude) legitimiert, die von Zivilisten bewohnt werden.

Die juristische Argumentation der IDF? Israel wäre die einzige Armee, die vor Luftan­grif­fen warnt und die den Men­schen die Möglichkeit gibt, noch aus dem Haus zu fliehen. Das bedeute, wenn Zivilisten trotz "roof knock"-Warnung das Gebäude nicht verlassen, können sie als militante Gegner oder Kollateralschäden angesehen werden, so Weizman.

IDF dreht ab

Vergangene Woche veröffentlichte die IDF ein Video, in dem sie die Bewohner eines Zielobjektes zunächst vorwarnen und anschließend auf einen Angriff verzichten. Ein shitstorm folgte und Twitterianer sprachen von Propaganda und Vertuschung wahrer Tatsachen. Israel gibt indes die Schuld der radikalislamischen Hamas, die Palästinenser davor warnt das Haus nach einem "knock roof" zu verlassen.

Zuvor hatte die rechte Knesset-Abgeordnete Ayelet Shaked die palästinensischen Zivilisten als legitime Ziele von Angriffen bezeichnet.

Unter dem Deckmantel

"Auch wenn die Intention der nicht-explosiven Rakete eine Warnung ist", erörtert Weizman, "ist es illegal, das Feuer auf Zivilisten zu eröffnen." Es sei "lächerlich" zu glauben, dass im Chaos des Angriffs, Menschen die Warnung verstehen und "empörend" zu behaupten, dass man dadurch viele Leben rette.

Weizman, der die Attacke an die Salha Familie zurückverfolgt hat, kommt zum Schluss, dass das Haus weder ein militärisches Hauptquartier der Hamas gewesen sei, noch Waffen darin gelagert wurden. Es war, so der Forscher, ein Fehler der IDF, den sie auch später eingestanden. Das ändere aber nichts daran, dass sechs Zivilisten ums Leben kamen.

Keine Warnung

Dass die Anzahl der zivilen Opfer hoch ist und stetig steigt, bestätigt ein Bericht der UN: 77 Prozent der über 200 getöteten Menschen im Gazastreifen sind Zivilisten - viele von ihnen sind Verwandte und Bekannte von Mitgliedern bewaffneter Gruppen, die sich während der Luftangriffe in ihren Häusern aufhalten.

Vor einer Woche wurde der Körper von Hafez Hamad - eingewickelt in einem Leichentuch - nach Beit Hanun gebracht, eine Stadt im Norden des Gazastreifens. Verwandte und Bekannte trauerten um das Mitglied der militanten Gruppe "Islamischer Dschihad in Palästina" und um fünf zivile Opfer, die sich beim israelischen Luftangriff nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.

"Normalerweise feuern sie erst eine Warnrakete ab, damit die Hausbewohner noch fliehen können", erzählt eine Frau, die nicht beim Namen genannt werden will, gegenüber dem britischen Telegraph. "Aber dieses Mal ging alles viel zu schnell. Das ist ein Verbrechen."

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Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat mit einem Hitler-Vergleich im Zusammenhang mit der israelischen Offensive im Gazastreifen einen diplomatischen Eklat ausgelöst. Auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Stadt Ordu kritisierte Erdogan am Samstagabend das Vorgehen der israelischen Armee in dem palästinensischen Küstenstreifen und verwies auf die vielen getöteten Zivilisten.

Sie (die Israelis) haben kein Gewissen, keine Ehre, keinen Stolz. Jene, die Hitler Tag und Nacht verurteilen, haben Hitler in Sachen Barbarei übertroffen.


In seiner israelkritischen Rede rief Erdogan die türkische Bevölkerung zur Ruhe auf. Es dürfe keine Übergriffe auf jüdische Mitbürger geben. In dem muslimisch geprägten Land leben etwa 17.000 Juden. Wegen der Gazaoffensive war es in den vergangenen Nächten in mehreren türkischen Städten zu Anti-Israel-Demonstrationen gekommen. Eine regierungsfreundliche Zeitung veröffentlichte ein Hitler-Kreuzworträtsel. Türkische Medien berichteten zudem von einer Welle von Twitter-Einträgen, in denen Israel scharf kritisiert und Bezüge zu Nazi-Deutschland hergestellt worden seien.

Reisewarnung

Das israelische Außenministerium sprach am Samstag eine Reisewarnung für die Türkei aus. Demnach sollten Israelis eine Reise in das Land möglichst vermeiden. Wenn es sich nicht anders einrichten ließe, sollten israelische Bürger bei einem Besuch in der Türkei wachsam sein und Demonstrationen meiden.

Die Beziehungen der einst befreundeten Staaten haben sich in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert. Einen Tiefpunkt erreichte das Verhältnis, als die israelische Marine ein türkisches Boot auf dem Weg zum Gazastreifen aufbrachte und dabei zehn Menschen an Bord tötete. Nach türkischen Angaben sollte das Schiff Hilfsgüter in den abgeschirmten Gazastreifen bringen. Israel warf der überwiegend türkischen Besatzung vor, die Gaza-Blockade durchbrechen zu wollen.

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