Chemnitz: Merkel Auge in Auge mit den Ängsten im Osten
Sachsen hat viele Baustellen, eine davon ist Chemnitz. Um den „Nischel“, so nennen die Bewohner den sieben Meter großen Karl-Marx-Kopf, ist eine Sperrzone errichtet – die Gehwegplatten werden erneuert. Auch an anderer Stelle wird gearbeitet, geschliffen: Das Bild der 250.000-Einwohner-Stadt hat Ende August starke Risse bekommen.
Nach dem Tod eines 35-Jährigen, zwei Asylwerber gelten als tatverdächtig, organisierten Neonazis und Hooligans Aufmärsche, denen sich rechte Vereine wie Pegida, Pro Chemnitz sowie die AfD anschlossen. Es kam zu Angriffen auf Beamte, Journalisten, Gegendemonstranten, „ausländisch“ aussehende Menschen und ein jüdisches Lokal. Die Bilder sorgten über Deutschland hinaus für Entsetzen.
In der Stadt ist man heute um Schadensbegrenzung bemüht: Eine Kunst-Biennale soll stattfinden, das Bündnis „Weder grau noch braun“, unterstützt von Unternehmern, Wissenschaftler und Künstlern, sammelt Spenden für demokratiefördernde Projekte. Auch der gestrige Besuch der deutschen Kanzlerin Angela Merkel sollte klärend wirken. Die Lokalzeitung Freie Presse organisierte ein Bürgergespräch, 120 Leser wurden dazu eingeladen. Dass es kein Wohlfühltermin würde, war Merkel klar – so verläuft der Anfang des Gesprächs auch etwas holprig.
Auf die erste Frage eines IT-Unternehmers, warum sie heute hier sei, reagiert sie ausweichend und holt dann aus. Sie erklärt, dass sie einen Beitrag leisten wolle. Das Bild der Stadt solle sich ändern, sie spricht von Verkehrsprojekten. Doch der Mann bohrt nach, was solle man mit den vielen unzufriedenen Menschen hier tun? Er weist auf die Ereignisse im August hin und die rechtsextremen Ausschreitungen. Merkel greift den Ball auf: Sie verstehe den Ärger über die Ereignisse, aber das rechtfertige nicht, ebenso Straftaten zu begehen.
Viele der nachfolgenden Fragen drehen sich um Intensiv-Straftäter und deren Abschiebung – auch in anderen Teilen Deutschlands. Merkel erklärt, dass es Versäumnisse gebe, aber man habe die Gesetz geändert, könne etwa die Identität der Menschen besser feststellen. Gleichzeitig stellt sie klar, dürfe man nicht alle Geflüchteten unter Generalverdacht stellen.
Stunden bevor sie sich in der Chemnitzer Hartmannhalle dem Bürgerdialog stellt, gleicht das Stadtzentrum einer Sperrzone: Hubschrauber kreisen, Polizisten in Mannschaftswagen fahren vor. Die Chemnitzer bleiben gelassen ob des Besuchs aus Berlin, manche gar gleichgültig. „Was soll das noch bringen“, kommentiert eine Passantin im Vorbeigehen.
Auf die Kritik, warum sie erst jetzt komme, die auch die Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) vorab geäußert hat, geht die Kanzlerin ebenfalls ein: Sie habe lange darüber nachgedacht, wollte nicht in aufgewühlter Zeit kommen. Ihr sei klar, dass sie polarisiere, das habe sich im Wahlkampf 2017 gezeigt. So wie damals mobilisierten auch gestern wieder rechte Demonstranten und rechtsradikale Vereinigungen. Am frühen Nachmittag schwingen Neonazis am Hauptbahnhof Fahnen, die Polizei konfisziert einen Karton mit „Merkeljugend“-Shirts. Vor der Hartmannhalle entrollen die Rechten später Anti-Merkel-Plakate und brüllen Parolen als der Konvoi mit der Kanzlerin vorbeifährt.
Rechte Probleme
Den Chemnitzer Unternehmer und Stadtrat Lars Fassmann überrascht der Aufmarsch nicht: „Diese Strukturen sind seit Jahren vorhanden, dagegen wird nach wie vor nichts getan“, kritisiert er im Gespräch mit dem KURIER. Erst kürzlich nahm die Polizei sieben mutmaßliche Rechtsterroristen fest, die hinter der terroristischen Vereinigung „Revolution Chemnitz“ standen und die sich seit 2014 aktiv auf Facebook präsentierte. Die Gruppe soll Angriffe auf Ausländer und politisch Andersdenkenden geplant haben. Im Oktober wurden in Chemnitz zwei persische und ein türkisches Restaurant überfallen. Vermummte schlugen den Besitzer des „Safran“ zusammen, er musste ins Krankenhaus. An die Hauswand wurden Hakenkreuze geschmiert.
Dass die Stadt nun mit solchen Gewaltakten in Verbindung steht, stört einen Teil der Bürger. Merkel ermuntert sie, sich davon abzugrenzen. „Stehen Sie auf, zeigen Sie, dass es Ihr Chemnitz ist.“ An dieser Stelle kommt der Motivationscoach in ihr durch. Eine Ärztin bemängelt das Verständnis für die Menschen im Osten. Man fühle sich oft als "Bürger zweiter Klasse". Die Kanzlerin wiederum weist mit Blick auf die Wende daraufhin, dass die Sachsen viel erreicht haben und als "stolzes und anpackendes Volk" seien, dabei streut sie auch ihre eigene Geschichte ein.
Andere wollen hingegen immer wieder auf ihre Flüchtlingspolitik zurückkommen. Eine Leserin wird emotional: Zwei Jahre hätte Merkel keine Antworten gegeben auf das Chaos, das aus ihrer Sicht ausgebrochen sei. Ein Mann konfrontiert Merkel mit dem Migrationspakt, den er nicht gut findet. Die Kanzlerin hält vehement dagegen. Er soll helfen, Flucht und Migration besser zu organisieren. Die Souveränität der Unterzeichner werde in keiner Weise beeinträchtigt, stellt sie klar und weist daraufhin, dass in puncto Pakt „Lügen in die Welt gesetzt“ wurden - diese Lügen müssten entlarvt werden.
Solchen Klartext hätten sich manche Bürger schon viel früher gewünscht - auch als Antwort gegen Rechtspopulisten. Eine Leserin appelliert an die Kanzlerin: „Uns geht’s ja eigentlich gut, warum schafft die Regierung es nicht, das zu kommunizieren?“
Dialog und Transparenz
Kommunikationsprobleme ortet auch Unternehmer Fassmann. Er fordert mehr Dialog mit den Bürgern – das sei Job der Abgeordneten in Stadt, Land und Bund. Denn was viele Menschen in Chemnitz stört: Sie haben Anliegen, fühlen sich in der Stadt nicht mehr sicher oder finden keinen Arzt, darum müssen sich die Stadtvertreter kümmern, sagt Fassmann. Doch bei den Bürgersprechstunden werden sie oft wieder weggeschickt – „niemand fühlt sich zuständig oder schiebt das Problem aufs Land und den Bund“. So hätten die Menschen das Gefühl, niemand nehme sie ernst. Dazu gehöre auch bessere Information, meint Fassmann. Das Land habe etwa 700 neue Polizeistellen besetzt, doch die seien noch in der Ausbildung. Es werde dauern, bis mehr auf der Straße sind, das müsse man vermitteln.
Ähnliches räumt auch Merkel ein: Bürger hätten ein Anrecht auf Erklärungen, das sei in der Vergangenheit zu kurz gekommen.