Mai ’68 in Frankreich: Wie alles begann
Von Danny Leder
Als ich 1981 als junger Journalist nach Paris kam, lernte ich einen Verwandten kennen, der mir Folgendes erzählte: Er hatte als Ingenieur in der Fabrik eines Stahlkonzerns gearbeitet. Ihm fiel auf, dass die „Cadres“ (wie in Frankreich höher qualifizierte Angestellte in mehr oder weniger leitender Funktion genannt werden) über krasse Privilegien verfügten. Darunter das Vorrecht, ihre Ferien in Bungalows zu verbringen, die aus einem betriebseigenen Fonds gespeist wurden.
Mein Verwandter beschloss, bei Betriebsratswahlen anzutreten, um die Ferienanlagen für die gesamte Belegschaft zu öffnen. Er gewann sein Mandat und setze sein Wahlversprechen durch: Auch Arbeiter konnten nun Bungalows buchen. Aber aus Angst vor den Vorgesetzten tat es keiner.
Das war in den 1960er-Jahren. Ähnliche Barrieren bestanden auch in anderen westeuropäischen Staaten – aber wohl in geringerem Ausmaß, wenn man die Gepflogenheiten in der Schwerindustrie etwa in Österreich zum Vergleich heranzieht.
Um die 1968er-Revolte in Frankreich zu erfassen, muss man die demütigenden Umgangsformen beachten, unter denen Arbeiter oft zu leiden hatten. Das Besondere am französischen Mai 1968 ist, dass es sich um einen der größten und längsten Generalstreiks handelte. Über drei Wochen hielten Streiks und Betriebsbesetzungen an, phasenweise standen mehr als sieben Millionen Menschen im Ausstand.
Sitten-Korsett
Die Studentenrevolte entzündete sich an erstarrten Unterrichtsstrukturen und einem verkorksten Sitten-Korsett. Aufgestachelt durch Räumungsaktionen der Polizei, mutierte die Jugendbewegung zu einer Erhebung gegen das sturmreife Präsidentschaftsregime von General Charles de Gaulle.
Aber bereits 1967 und Anfang 1968 gab es Fabrikstreiks mit Betriebsbesetzungen. Wobei Werksleiter in ihren Büros eingesperrt wurden. Eine Vorreiter-Rolle spielte das mittlere Westfrankreich entlang der Atlantikküste. Das waren vielfach frisch industrialisierte Gebiete mit jungen Arbeitern, die aus bäuerlichen, katholisch-konservativen Familien stammten.
Wut der jungen Arbeiter
Der Gewerkschaftsbund CGT, der der Kommunistischen Partei unterstand, sorgte in den alten Industrie-Revieren für eine gewisse soziale Abfederung. Aber in den neueren Fabriken entfaltete sich aufseiten der Unternehmer Machtgehabe in ungebremster Manier. In Geheimberichten warnte die Staatspolizei vor der Wut der jungen Arbeiter über die Geschwindigkeit der Fließbänder und den „Caporalisme“ (militärischer Umgangston) der Abteilungsleiter.
Die staatlichen Schnüffler sollten Recht behalten. Die Stadt Caen in der Normandie war schon im Jänner 1968 Schauplatz von Straßenschlachten: Arbeiter, Bauern und Studenten kämpften mit den CRS („Compagnies républicaines de sécurité“ – Polizei-Sondertruppen). Die Historikerin Ludivine Bantigny zitiert aus den Archiven der Behörden (De grands soirs en petits matins, Ludivine Bantigny, Editions du Seuil): Diese meldeten Zusammenstöße, „wie sie noch nie in Friedenszeiten stattfanden“. Die CRS schlugen mit Gewehrkolben auf die Menge ein. Die Arbeiter griffen mit Pflastersteinen und Stahlbolzen an. „Auf dem Gehsteig sah man Blutlachen.“
Im Pariser Großraum scheiterte die Studentenbewegung bei ihrem ersten Anlauf, Anfang Mai, für einen Schulterschluss mit den Fabriksarbeitern an der damals mächtigen Kommunistischen Partei und ihrem CGT-Gewerkschaftsbund. Die Moskau-hörige KP wollte keinen Sturz von De Gaulle (den die Sowjetunion als wichtigen Partner betrachtete) und bekämpfte linke Gruppen, die sich ihr nicht unterwarfen. Aber bei den jungen Arbeitern im Westen verbreitete sich der Streik wie ein Lauffeuer, das von einem neuen Gewerkschaftsbund, dem CFDT, angeheizt wurde.
Maßgeblich beteiligt am CFDT waren die Katholische Arbeiterjugend und die „Arbeiter-Priester“ (junge Kleriker, die gegen den Willen der Kirchenführung in Fabriken anheuerten). Der CFDT trug den Mai-Aufstand so lange mit, bis CGT und KP mitziehen mussten.
Der Generalstreik begann Mitte Mai. Ähnlich wie die Universitäten wurden auch besetzte Fabriken zu Orten der freien Debatte. Künstler und Wissenschaftler traten auf, es wurde musiziert und gesportelt. Werks-Komitees warteten die Maschinen und hielten diese, wo es notwendig war, am Laufen.
Entmutigter De Gaulle
Nach fast zwei Wochen Generalstreik kippte die Stimmung an der Staatsspitze. Der damals 79-jährige De Gaulle zeigte sich entmutigt. Jüngere Mitarbeiter, darunter der spätere Staatschef Jacques Chirac, ergriffen die Initiative für eine Verständigung mit der KP und dem CGT. Bei Verhandlungen am 27. Mai wurde eine generelle Anhebung des Mindestlohns vereinbart. Als tags darauf in den größten Fabriken, trotz Fürsprache des CGT, diese Zugeständnisse als unzureichend abgelehnt worden waren, verzagte De Gaulle und verließ am 29. Mai das Land. Er hatte sich zu einem Vertrauten, General Jacques Massu, auf eine französische Militärbasis in Deutschland begeben. Massu konnte De Gaulle von seinen Rücktrittsplänen aber abbringen.
Konservativer Sieg
Dass De Gaulle am 30. Mai nach Paris zurückkehrte und sich seine Anhänger wieder fassten, bewahrte Frankreich vermutlich vor dem Machtantritt einer höchst verworrenen Linken. Die Versorgungskrise hatte auch Teile der Bevölkerung zermürbt, die anfänglich den Mai-Aufstand mit Wohlwollen betrachteten.
Am 30. Juni siegte bei den Parlamentswahlen eine konservative Allianz um De Gaulle. Freilich: Ein Jahr darauf scheiterte De Gaulle bei einer Volksabstimmung und trat dann wirklich zurück.
Mai 1968: Chronologie der Ereignisse
3.Mai Die Polizei räumt die Sorbonne-Universität in Paris und nimmt 600 Studenten fest.
10.Mai Im Pariser Studentenviertel Quartier Latin werden Barrikaden errichtet. Hunderte Verletzte.
13. Mai Eine Million demonstriert gegen Präsident De Gaulle. Generalstreik.
29.Mai De Gaulle flüchtet auf eine französische Militärbasis in Deutschland und will abtreten.
30.Mai Der Präsident kehrt nach Paris zurück. Eine Million Menschen gehen für ihn auf die Straße.
30. Juni Die bürgerlichen Parteien um de Gaulle gewinnen die Wahlen.