Libyen taumelt weiter in den Abgrund
Von Armin Arbeiter
Dutzende Tote und Verletzte, mehr als 2.000 geflohene Menschen – die Offensive des libyschen Generals Khalifa Haftar auf die Hauptstadt Tripolis hat bereits ihre Opfer gefordert. Die „Libysche Nationale Armee“ (LNA) des 75 Jahre alten Warlords steht seit vergangenem Donnerstag vor der Stadt, will „den Boden unter den Füßen der Unrechtmäßigen“ erzittern lassen. Damit ist unter anderem die sogenannte Einheitsregierung gemeint, die zwar von der UNO und den westlichen Ländern anerkannt, aber keineswegs eine Einheitsregierung ist. Nicht einmal die Hauptstadt steht vollständig unter ihrer Kontrolle – verschiedene, teils islamistische Milizen haben in den vergangenen Jahren einen brüchigen Frieden mit Premierminister Fayez al-Sarraj gewahrt.
Offensive stockt
In Haftars Augen ist Sarraj von den Islamisten unterwandert, aus diesem Grund will er – zumindest offiziell – den Westen des Landes von den verbliebenen „Terrorgruppen“ säubern. Er stellt den Anspruch, der „starke Mann in Libyen“ zu werden, so wie sein ehemaliger Weggefährte und späterer Todfeind Muammar al-Gaddafi, mit dem er 1969 gemeinsam geputscht hatte.
Nach einem erfolglosen Feldzug im Tschad ließ Gaddafi ihn fallen, Haftar konnte sich in die USA absetzen. 2011 kehrte er nach Libyen zurück und scharte verschiedene Gruppen um sich. Doch seine Offensive ist stark ins Stocken geraten – Truppen aus Tripolis sind zum Gegenangriff übergegangen, der Flughafen ist hart umkämpft. Haftar setzte sogar Kampfflugzeuge ein.
Mit den lokalen Milizen hat die Einheitsregierung jedoch einen hohen Risikofaktor in den eigenen Reihen: „Sie kämpfen zwar gemeinsam mit der Einheitsregierung, das bedeutet aber nicht, dass sie ihr unterstellt sind“, sagt der renommierte Libyen-Experte Wolfgang Pusztai zum KURIER. Erst vergangenen Donnerstag hatte Haftar, der früher gute Verbindungen zur CIA hatte und US-Staatsbürger ist, Milizen vor Tripolis auf seine Seite ziehen können. Und das ist laut Pusztai die größte Chance für den General: „Sollte er einige Milizen aus dem Bündnis in Tripolis herausbrechen, könnte sich das Blatt zu seinen Gunsten wenden.“
Einen blutigen Häuserkampf könne und wolle Haftar nicht in Kauf nehmen. „Viele Stämme aus dem Osten, die an seiner Seite kämpfen, sind nicht dazu bereit, ihr Blut in Tripolis zu vergießen“, analysiert Pusztai. Der ehemalige österreichische Militärattaché in Tripolis sieht den Ausgang der Offensive als völlig offen an: „Haftar geht ein hohes Risiko ein, vom Nachschub abgeschnitten zu werden“, sagt er. „Seine Versorgungswege von Ost nach West sind sehr ausgedehnt, führen unter anderem durch die Oase Jufra. Ihm feindliche Milizen haben bereits zweimal versucht, sie einzunehmen. Wenn ihnen das gelingt, steckt er in Schwierigkeiten.“
Migranten betroffen
Die Situation für die Zehntausenden Migranten, die nach wie vor in Libyen leben, dürfte sich verkomplizierten. „Dabei könnte es einfacher – nicht unkomplizierter – werden, wenn Haftar gewinnt“, sagt Pusztai. „Dann hätte man zumindest einen einzigen Ansprechpartner.“ Unübersichtlicher würde es, wenn Haftar verlieren sollte: „Dann wird die Einheitsregierung sich nur dank des Netzwerks aus Milizen – auch radikalislamischen – über Wasser gehalten haben.“ Dadurch würden diese an der Küste noch selbstbewusster auftreten. Seit Jahren machen sie mit Migranten ein blühendes Geschäft, arbeiten eng mit Menschenschmugglern zusammen.
Für Mitte April wären zum wiederholten Male lokale Wahlen geplant gewesen, außerdem eine UN-geführte, nationale Konferenz. Während die UNO nach wie vor darauf pocht, sie durchzuführen, rückt der Plan angesichts der Kämpfe in weite Ferne.