Politik/Ausland

Ein Aufstand des französischen Speckgürtels

Seit dem Sieg des „Front National“ (Platz eins mit 25 Prozent) ist Frankreichs übrige Parteienlandschaft aus dem Häuschen: während SP-Staatschef Hollande in einer TV-Ansprache seine sozialliberale Reformpolitik bekräftige, wächst unter den sozialistischen Parlamentariern die Ablehnung dieses Kurses, den sie für die historische Niederlage der SP (14 Prozent) verantwortlich machen. Gleichzeitig muss die konservative UMP (Platz zwei mit 21 Prozent) um ihre Existenz bangen: der Machtkampf zwischen Führungs-Rivalen ist voll entbrannt.

Aber alle diese Umtriebigkeit wirkt abgehoben angesichts einer tieferen sozialkulturellen Entwicklung: das Frankreich der Reihenhaus-Siedlungen, abgeschlagenen Industriereviere und darbenden Kleinstädte, das sich geopfert fühlt zugunsten der urbanen Eliten und der Migranten, hat Marine Le Pen aufs Siegerpodest gehoben.

Tatsächlich verdeckt das französische Wahlergebnis in seiner Gesamtheit zwei gegensätzliche Aspekte: hätten die konservative UMP und die Zentrumspartei UDI (10 Prozent) die sonst übliche, gemeinsame Liste gebildet, wäre der FN wohl nicht auf Platz eins gelangt. Aber andererseits ging der FN in fünf der acht Großwahlkreise Frankreichs in Führung. Im dem mit Industrieruinen gesäumten Norden, wo Marine Le Pen kandidierte, kam sie sogar auf 32 Prozent. Sieht man von Frankreichs Überseeprovinzen ab, wo der FN fast inexistent ist, widerstanden ihr nur der spät-industrialisierte, vergleichsweise dynamischere Westen und die Region Paris.

Angst um bescheidenen Wohlstand

Der Trend wurde von französischen Sozialwissenschaftlern schon mehrfach geortet wurde: der FN wird zunehmend zur Partei, der sich endlos ausdehnenden Speckgürtel. Das ist tendenziell jene Mehrheit der Bevölkerung, die ihren bescheidenen Wohlstand bedroht sieht und um die Zukunft ihrer Kinder bangt, weil das Industriesterben anhält, weil inner- und außereuropäische Konkurrenz übermächtig erscheinen, weil Ortszentren verfallen, weil Steuern schmerzhaft anziehen, während die öffentlichen Dienste auf dem Rückzug sind.

Dazu kommen Misstrauen bis Angst gegenüber den noch ärmeren Mietern der Sozialbau-Siedlungen, oft arabisch- und afrikanisch-stämmige Arbeiterfamilien. Auch Neid wegen Sozialhilfen, Gerüchte über Gewalttaten der Jugendlichen dieser Siedlungen, tatsächliche Reibereien, Drogendeal und Einbruchskriminalität, manchmal allzu fordernde islamische Religiosität.

Schließlich haben Barackenlager von Roma-Migranten aus Osteuropa stellenweise zu Problemen mit der Nachbarschaft geführt. Zahlenmäßig handelt es sich um wenige Personen, aber das Phänomen hat in der Vorstellungswelt vieler Franzosen bedrohliche Dimensionen angenommen, die Marine Le Pen noch übertrieb, in dem sie bei ihren Wahlversammlungen suggerierte, dass sich in Osteuropa „sieben Millionen Roma“ startklar zum Sturm auf Frankreich bereit hielten und dabei von der EU unterstützt würden.

Muslime und Juden

Gleichzeitig haben diesmal auch überzeugte sozialistische Arbeiterwähler und solche aus Migrantenfamilien sowie Angehörige der urbanen Bildungsschichten der SP ihre Stimme versagt und sich enthalten. Während eine Minderheit auch der Muslime und Juden (In Frankreich leben die meisten Muslime und Juden Europas) für Marine Le Pen gestimmt haben – aus den selben Gründen wie die übrigen FN-Wähler (Wirtschaftsstagnation, Angst vor Jugendkriminalität), und weil die FN-Chefin einen moderateren Ton als ihr Vater, der FN-Gründer Jean-Marie Le Pen, anschlägt.

Bleibt ein Trostpflaster für die Le Pen-Gegner: Bei einer Umfrage unter den FN-Wählern vom Sonntag stimmten bloß 28 Prozent der Behauptung zu: „Die FN hat ein Programm, das die Lage in Frankreich verbessern würde“. Auf die Frage „Vertrauen sie den FN-Kandidaten mehr als anderen Politikern?“ antworteten gar nur acht Prozent mit Ja.