Russische Truppen verlieren um Kiew an Boden, Luftraum nach wie vor umkämpft
Tag 29 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:
Russische Truppen greifen nach Angaben des ukrainischen Militärs weiter zahlreiche Städte und Gebiete im ganzen Land an - sind allerdings bei der Hauptstadt Kiew am Vorrücken gehindert worden. Es sei ihnen nicht gelungen, die ukrainischen Verteidigungsstellungen zu durchbrechen, um den nordwestlichen Stadtrand der Hauptstadt zu erreichen.
Russen ziehen sich um Kiew zurück
Auch laut Angaben eines Pentagon-Vertreters ist es der ukrainischen Armee gelungen, die russischen Truppen im Osten von Kiew deutlich zurückzudrängen. Die russischen Streitkräfte hätten sich dort binnen 24 Stunden mehr als 30 Kilometer weit zurückgezogen, sagte der ranghohe Vertreter des US-Verteidigungsministeriums, der anonym bleiben wollte, am Mittwoch vor Journalisten. "Wir beginnen zu sehen, wie sie sich verschanzen und Verteidigungspositionen aufbauen", fügte er hinzu.
Nicht voran kommen die russischen Streitkräfte nach Einschätzung des Pentagon auch in der Umgebung der nördlich von Kiew gelegenen Großstadt Tschernihiw. Dort säßen die russischen Soldaten zehn Kilometer vom Zentrum entfernt fest. In einigen Bereichen seien die russischen Soldaten zuletzt zurückgewichen. "Sie bewegen sich sogar in die entgegengesetzte Richtung, aber nicht viel", erklärte der Ministeriumsvertreter.
Die Situation im Rest des Landes
Nach Angaben des ukrainischen Militärs hat die russische Armee allerdings ihre Luftangriffe verstärkt. Binnen 24 Stunden habe man mehr als 250 Einsätze registriert, heißt es im Morgenbericht des ukrainischen Generalstabs am Donnerstag. Am Vortag seien es 60 weniger gewesen.
Im Gebiet rund um die belagerte Stadt Isjum versuchten russische Einheiten, Abwehrstellungen der ukrainischen Streitkräfte in den südlich von Isjum gelegenen Dörfern Donezke, Topolske und Kamjanka zu durchbrechen, hieß es in dem Bericht weiter. Die Gefechte dort dauerten an.
Im Gebiet Donezk sei die überwiegende Mehrheit der ukrainischen Einheiten unter Beschuss. Russische Truppen wollten in dem Gebiet vor allem die Orte Werchnoterezke, Marjinka und die Großstadt Mariupol einnehmen. Sie versuchten auch ohne Kampf die Positionen ukrainischer Truppen zu passieren und sich vorwärtszubewegen.
Im Gebiet Luhansk konzentrierten sich die Anstrengungen auf die Städte Rubischne mit 60.000, Sjewjerodonezk mit 100.000 und Popasna mit 20.000 Einwohnern, hieß es in dem Bericht weiter. Bei Popasna versuchten sie mit Artillerie-Unterstützung weiter in die Stadt vorzudringen, was aber nicht gelinge.
Auch im Norden des Landes dauerten die Kampfhandlungen an. Russische Einheiten hätten am Mittwoch die Orte Kalinowka, Horinka, Romanowka oder die nordöstlichen Randgebiete der Hauptstadt Kiew mit Artillerie beschossen. Russische Truppen verminten in dem Gebiet auch Bereiche. Die Angaben können nicht unabhängig geprüft werden.
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Selenskij: Putins Blitzkrieg ist gescheitert
Der "Blitzkrieg" von Wladimir Putin sei laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij gescheitert. "Putins Blitzkrieg ist gescheitert, unser Widerstand geht weiter, der Feind ist demoralisiert", so Selenskij im Interview mit der römischen Tageszeitung La Repubblica (Donnerstagsausgabe). Selenskij beantwortete die Fragen des Blatts von einem geheimen Ort in der Ukraine.
"Unsere Nation ist verwüstet, ganze Städte existieren einfach nicht mehr, die Russen haben sie ausgelöscht. Der größte Verlust, den wir erleiden, sind die Menschen", sagte Selenskij im Interview mit Maurizio Molinari, Chefredakteur von La Repubblica.
Der ukrainische Präsident bat die NATO um "Luftverteidigungsmittel, um uns vom Himmel aus zu schützen", aber er sei auch bereit, sich sofort mit Putin zu treffen, "unter der Bedingung, dass er uns kein Ultimatum stellt".
Luftraum ist nach wie vor umkämpft
Dem zuvor zitierten Pentagon-Vertreter zufolge konzentriert sich die russische Armee inzwischen verstärkt auf die prorussischen Separatistengebiete Luhansk und Donezk. Demnach verfolgt das russische Militär offenbar die Strategie, die entlang der früheren Frontlinie in der Ostukraine stationierten ukrainischen Streitkräfte zu "binden", damit sie "nicht anderswo eingesetzt werden können".
Die Lufthoheit haben die russischen Streitkräfte nach Einschätzung des US-Verteidigungsministeriums auch einen Monat nach Kriegsbeginn noch immer nicht erobert. Der Luftraum sei weiterhin umkämpft, stellte der Pentagon-Vertreter fest.
Die USA und ihre Verbündeten arbeiteten daran, den Ukrainern mehr Luftabwehrsysteme mit großer Reichweite zu beschaffen. Die derzeit vorhandenen Systeme setzten die Ukrainer "sehr effektiv" ein. Das sei ein Grund dafür, "warum wir ein ziemlich risikoscheues Verhalten einiger russischer Piloten beobachten".
Biden heute in Brüssel zu Gast
Der russische Angriff auf die Ukraine wird auch den Gipfel der 27 EU-Staats- und Regierungschefs, zu dem auch US-Präsident Joe Biden als Gast geladen ist, am Donnerstag und Freitag in Brüssel dominieren. Diskutiert wird ein fünftes EU-Sanktionspaket, das unter anderem ein Energie-Embargo beinhalten könnte. Allerdings scheint sich bei einigen westlichen EU-Staaten eine gewisse Sanktionsmüdigkeit einzustellen. Bundeskanzler Karl Nehammer wird an dem Treffen teilnehmen.
Für eine Rede wird der ukrainische Präsident Selenkskij per Video zugeschaltet. Die Ukraine hatte im Vorfeld ihre Forderung nach einem kompletten Öl- und Gasembargo gegen den Aggressorstaat Russland bekräftigt.
Insgesamt 64 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen
Der Krieg in der Ukraine hat das Gesundheitssystem des Landes in vielen Regionen zum Erliegen gebracht. "Zerstörte Gesundheits-Infrastruktur und die unterbrochene Versorgung mit medizinischen Gütern gefährden jetzt Millionen Menschen", stellte am Donnerstag das Europa-Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fest. Dokumentiert seien zumindest 64 völkerrechtswidrige Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen.
Das bedeute bei rund sieben Millionen Flüchtlingen im Land selbst und vier Millionen Menschen, welche in Nachbarländer geflüchtet seien, große Gefahr. "Gemäß den Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) leidet eine von drei in der Ukraine vertriebenen Personen an einer chronischen Erkrankung." Für sie gebe es in vielen Fällen kaum Zugang zu medizinischer Versorgung.
Gleichzeitig sei eine große 'Anzahl von Spitälern in der Ukraine jetzt zuvorderst mit der Versorgung von Kriegsverletzten beschäftigt. "Das geht zu Lasten der essenziellen Gesundheitsleistungen und der Primärversorgung. Man schätzt, dass etwa die Hälfte der öffentlichen Apotheken in der Ukraine geschlossen sind. Viele ehemals im Gesundheitswesen Beschäftigte sind selbst zur Flucht gezwungen worden oder können nicht mehr arbeiten.
Dieser Artikel wird laufend aktualisiert.