Kohle statt Passagiere: Angst vor noch mehr Chaos bei deutscher Bahn
Von Konrad Kramar
Die Deutsche Bahn hat einen Katastrophensommer hinter sich. Das Neun-Euro-Ticket hat für einen ungeahnten Ansturm auf die Züge und eine völlige Überlastung geführt. Und das in einem Unternehmen, das ohnehin seit Monaten mit immer mehr Verspätungen, Zugausfällen und einem zum Gutteil maroden Gleisnetz kämpft.
Versorgungskrise
Und in diesem Herbst kommt durch die Energiekrise eine weitere Belastung dazu. Kohle- und Ölzüge bekommen in Deutschland auf der Schiene Vorrang vor anderen Gütertransporten und dem Personenverkehr. Die Regierung beschloss am Mittwoch eine Verordnung, mit der die Versorgung von Kraftwerken oder von Regionen mit knappen Benzin- und Diesel-Beständen gesichert werden soll. Passagiere der Bahn könnten „durch den Ausfall von Schienen-Personenverkehren betroffen“ sein, heißt es in der Verordnung.
Vom Schiff auf die Schiene
Doch der Andrang auf die Schiene wächst von allen Seiten. Zum einen steigen immer mehr Unternehmen - darunter auch die Autoindustrie - aus Gründen des Klimaschutzes vom Lkw auf die Schiene um. Andererseits macht die Dürre in diesem Sommer und das darauffolgende Niedrigwasser auf so wichtigen Fluss-Transportrouten wie dem Rhein Schiffstransporte immer schwieriger. Auch von dort kommt also immer mehr Andrang auf die Bahn.
"Es regnet Brei"
Für führende Vertreter der deutschen Bahn ein Grund, Alarm zu rufen - denn die wachsende Nachfrage sei zwar positiv, aber nicht mehr zu bewältigen. „Es regnet Brei“, stellt Betriebsrat Jörg Hensel fest. Das Problem: „Wir haben keine Löffel. Die Ressourcen sind knapp - oder sind gar nicht vorhanden.“
Aufträge abgelehnt
Aber Aufträge werden schon seit Monaten abgelehnt. Rund 100 Züge stünden jeden Tag auf den Bahnhöfen und kämen nicht weg. Das Hauptproblem sei das marode Netz. Und der Druck wird dort noch steigen: Militär-Transporte rollen nach Osten sowie Getreidezüge aus der Ukraine nach Westen. Der Beschluss der Regierung, jetzt die Kohlezüge vorzuziehen, könnte das ganz endgültig entgleisen lassen. Fast die Hälfte der IC und ICE waren zuletzt schon unpünktlich, jetzt müssen sie wie andere Güterzüge auch noch hinter Kohlezügen herzuckeln.
"Radikales Umsteuern"
Schon Ende Mai musste Bahn-Chef Richard Lutz den Offenbarungseid für das rund 33.000-Kilometer-Schienenetz leisten. Das Netz müsse grundlegend saniert werden, die Betriebslage sei kritisch: „Es braucht ein grundsätzliches, ein radikales Umsteuern. Ein weiter so ist definitiv keine Alternative.“ Die Sanierung im großen Stil kann aber erst 2024 beginnen. Jetzt müssen nach einem Unglück in Garmisch-Partenkirchen auf dem strapazierten Netz auch noch 200.000 Betonschwellen ausgetauscht werden. Folge: Noch einmal über 150 Baustellen.