FDP stoppt Jamaika, Merkel: "Hätten Einigung erreichen können"
- Kurz vor Mitternacht beendete die FDP in der Nacht auf Montag offiziell die Sondierungsgespräche zu einer sogenannten "Jamaika"-Koalition.
- Auch acht Wochen nach der Wahl am 24. September zeichnet sich in der wichtigsten Volkswirtschaft Europas damit noch immer keine stabile Regierung ab.
- Grüne, CDU und CSU kritisierten den Schritt der FDP. Eine Einigung sei möglich gewesen, hieß es.
- Wie es nun weitergeht, ist noch völlig unklar. Die SPD lehnt eine neuerliche Koalition mit der CDU nach wie vor ab, möglich wäre auch eine CDU-Minderheitsregierung. Oder Neuwahlen.
>> Kommentar: Ungewohntes, instabiles Deutschland
Nach wochenlangen Verhandlungen haben die deutschen Liberalen kurz vor Mitternacht die Jamaika-Sondierungen abgebrochen und damit eine politische Krise in Deutschland ausgelöst. "Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren", sagte FDP-Parteichef Christian Lindner am späten Sonntagabend in Berlin. "Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht mitverantworten."
Merkel bedauert den Abbruch
CDU-Chefin und Bundeskanzlerin Angela Merkel, CSU-Chef Horst Seehofer wie auch die Grünen-Spitze bedauerten die Entscheidung. Merkel sagte, sie werde Deutschland auch als geschäftsführende Kanzlerin durch schwierige Wochen führen. Die Grünen erhoben schwere Vorwürfe gegen die FDP, die ein Scheitern offenbar schon länger geplant hätten. Der Euro gab in Fernost leicht nach.
Ähnlich äußerte sich CSU-Chef Seehofer. "Beim Thema Zuwanderung hätte es eine Einigung geben können", sagte Seehofer, der es "schade" findet, dass die FDP den Verhandlungstisch verlassen hat. Das Scheitern der Gespräche sei eine Belastung für Deutschland. "Ein Ergebnis war zum Greifen nahe", so Seehofer, der nach seinen eigenen Worten davon ausgegangen ist, dass man am Ende des Tages ein Ergebnis vorweisen könne.
fluchtartig verlässt die FDP die Landesvertretung BaWü #JamaikaSondierung
— Michael Kellner (@MiKellner) 19. November 2017
FDP-Chef Lindner begründete das Ende der Verhandlungen mit einer fehlenden Vertrauensbasis - es sei den Parteien nicht gelungen eine Vertrauensbasis oder eine gemeinsame Idee für eine Modernisierung des Landes zu finden, so der FDP-Chef.
Einer der Kernstreitpunkte in den Sondierungen war auch am Sonntag die Flüchtlingspolitik gewesen. Die Union beharrte auf einer Begrenzung der Zuwanderung und wollten einen Richtwert einer maximalen Nettozuwanderung von 200.000 Personen aus humanitären Gründen pro Jahr. Die Grünen pochten dagegen darauf, dass der Familiennachzug für Flüchtlinge mit eingeschränktem Schutzstatus nach März 2018 freigegeben wird. Dies lehnten sowohl CDU, CSU und FDP ab.
Scharfe Kritik an FDP
Für die FDP hagelt es bereits Kritik aus den Reihen der anderen Parteien. Der Bundesgeschäftsführer der Grünen Michael Kellner schreibt auf Twitter über eine regelrechte "Flucht" der Liberalen aus den Verhandlungen.
CDU-Vize Julia Klöckner beklagt, dass Lindner allein vor die Presse getreten ist. "Anständig" wäre gewesen, wenn alle gemeinsam das Ende der Gespräche verkündet hätten.
Schon am Mittag hatte es geheißen, es herrsche dicke Luft. Beklagt wurden fehlendes Vertrauen, Durchstechereien, persönliche Angriffe und Unwahrheiten in der Öffentlichkeit. Laut Andreas Scheuer begann der Tag schon sehr "krawallig". Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier sagte, die ernsten Verhandlungen der Chefs seien kein Theaterdonner. Verärgert zeigten sich Union und FDP wegen eines Interviews des Grünen Jürgen Trittin in der „Bild am Sonntag“. „Der schießt das ab. So kann man nicht arbeiten“, sagte ein FDP-Verhandler.
SPD weiterhin gegen Neuauflage der Großen Koalition
Wie es nun weitergeht, ist völlig offen. Die SPD hatte erst wieder am Sonntag erneut bekundet, für eine neue Große Koalition nicht zur Verfügung zu stehen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wiederum hatte die Parteien in Deutschland an die Verantwortung erinnert, eine Regierung zustande zu bringen.
SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles sagte am Abend im ZDF: "Die Große Koalition wurde ganz klar abgewählt." Dass die SPD in die Opposition gehe, sei "keine Schmollreaktion". Sie betonte zudem: "Unser Auftrag ist es, dass wir wieder Mehrheiten kriegen für Koalitionsbildungen, die wieder besser zusammenpassen." Sie jedenfalls freue sich auf die Rolle der Opposition. Auch SPD-Vize Ralf Stegner bestätigte, dass die SPD nicht für eine Regierungsbeteiligung zur Verfügung stehe.
Bleiben die Sozialdemokraten bei ihrer Aussage, gäbe es wohl als Alternativen nur Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung. Theoretisch wäre auch ein zweiter Anlauf der Jamaika-Sondierer nach einer Abkühlphase denkbar. Derzeit ist Kanzlerin Merkel bis zur Bildung einer neuen Regierung geschäftsführend im Amt.
Merkel unter Druck
Unklar war in der Nacht auch, wie sich die Entwicklung auf den Machtkampf in der CSU auswirkt. Dabei geht es um die Frage, wer die CSU in den bayerischen Landtagswahlkampf 2018 führt. "Es ist schade, dass es am Ende nicht gelungen ist, dies zum Ende zu führen, was zum Greifen nahe war", sagte CSU-Chef Seehofer, der Merkel ebenso wie die Grünen dafür dankte, dass sie in den Verhandlungen einen Kompromiss gesucht habe. Er selbst habe mit einem positiven Sondierungsergebnis gerechnet. Auch Grünen-Chef Cem Özdemir sagte: "Wir waren zu dieser Verständigung bis zur letzten Sekunde bereit."
Bundeskanzlerin Merkel wird nun den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, dem bei etwaigen Neuwahlen eine entscheidende Rolle (siehe Abschnitt unten) zukommen würde, informieren und dann"müssen wir schauen, wie sich die Dinge weiterentwickeln", so die Kanzlerin.
Das Scheitern der Jamaika-Sondierungen stürzt Deutschland in eine politische Krise. Bleibt die SPD bei ihrer Aussage, der Union nicht für eine weitere Große Koalition zur Verfügung zu stehen, könnte es zu Neuwahlen oder einer Minderheitsregierung kommen. Den verfassungsrechtlichen Rahmen für diese beiden Varianten beschreibt Artikel 63 des Grundgesetzes. Aus dem vierten Absatz ergibt sich, dass der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dabei eine entscheidende Rolle zukommen würde:
Artikel 63 (1) Der Bundeskanzler wird auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt. (2) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist vom Bundespräsidenten zu ernennen. (3) Wird der Vorgeschlagene nicht gewählt, so kann der Bundestag binnen vierzehn Tagen nach dem Wahlgange mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler wählen. (4) Kommt eine Wahl innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Vereinigt der Gewählte die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich, so muß der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl ernennen. Erreicht der Gewählte diese Mehrheit nicht, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen.
"Meine Damen und Herren,
es ist ja schon der frühe Morgen, und ich möchte mich als erstes Mal bei unseren Gastgebern hier in der baden-württembergischen Landesvertretung bedanken, die an einem wirklich, ich würde fast sagen historischen Tag uns Gastfreundschaft gewährt haben. Hinter uns liegen vier Wochen intensivster Verhandlungen, und ich glaube, ich kann für CDU und CSU sagen, dass wir nichts unversucht gelassen haben, um doch eine Lösung zu finden.
Wir haben dabei vieles erlebt, sehr unterschiedliche Kulturen von Verhandlungsstilen, und bei den Grünen durchaus bei allen Sympathien manchmal etwas gewöhnungsbedürftig, bei der FDP sehr entschieden, aber wir glauben, dass wir auf einem Pfad waren, auf dem wir hätten eine Einigung erreichen können.
Natürlich mit Abstrichen, das beinhaltet eine Koalition, bei der Partner sich finden sollen, die sehr sehr große Wege zu gehen haben, und deshalb bedaure ich es auch, bei allem Respekt für die FDP, dass wir keine gemeinsame Lösung finden konnten.
Wir hatten aus unserer Perspektive der Union sehr vieles erreicht in diesen Verhandlungen, was die Stabilität des Landes gestärkt hätte, sowohl die Frage der wirtschaftlichen Entwicklung, bei den schweren Fragen der Erwartungen der Grünen an die Leistungen im Blick auf den Klimaschutz, aber vor allen Dingen auch was soziale Fragen anbelangt, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in den ländlichen Räumen.
Wir haben interessanterweise die erste Einigung über die Landwirtschaftspolitik erzielt, das wäre und ist, weil es bleibt, ja auch ein interessanter Bestandteil, was vielleicht auch versöhnend auf unsere Gesellschaft hätte wirken können, und jetzt müssen wir trotzdem mit den Tatsachen umgehen. Tatsache heißt, dass wir keine Sondierungsgespräche erfolgreich abschließen konnten. Das bedeutet, dass ich morgen den Bundespräsidenten kontaktieren werde, ihn natürlich informieren werde über den Stand der Dinge, und dass wir dann schauen müssen, wie sich die Dinge weiter entwickeln.
Wir, CDU und CSU gemeinsam, ich sage das ausdrücklich, werden Verantwortung für dieses Land auch in schwierigen Stunden übernehmen und auch weiter sehr verantwortungsvoll handeln. Denn die Menschen in Deutschland haben sich heute mehrheitlich gewünscht, dass wir zusammenfinden. Und denen fühlen wir uns verpflichtet. Und wir werden dazu beitragen, mit unseren Kräften, die wir haben, zum Zusammenhalt dieses Landes auch einen Beitrag zu leisten.
Natürlich war ein ganz zentrales Thema das Thema der Migration, der Zuwanderung, hier gab es nicht die großen Unterschiede mit der FDP, aber hier so unsere Einschätzung hätten wir auch eine Lösung mit den Grünen finden können. Und wir wissen, dass wir dieses Land zusammenführen müssen und so werden wir in den nächsten Wochen in einem Weg, den wir nicht genau beschreiben können, natürlich unser verantwortliches Handeln auch weiter fortsetzen.
Es ist ein Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland. Aber ich will Ihnen sagen, ich als Bundeskanzlerin, als geschäftsführende Bundeskanzlerin, werde alles tun, das dieses Land auch durch diese schwierigen Wochen gut geführt wird."
"Ja meine Damen und Herren,
wir haben Stunden, Tage und Wochen miteinander gerungen, und heute am Tag länger als wir uns ursprünglich vorgenommen haben. Wir haben als Freie Demokraten in den letzten Wochen zahlreiche Angebote zum Kompromiss unterbreitet, unter anderem zu Beginn in der Steuerpolitik, in der Europapolitik, in Fragen der Einwanderung, in der Bildungspolitik. Denn wir wissen, das Politik vom Ausgleich lebt. Und mit knapp elf Prozent kann man nicht den Kurs einer ganzen Republik diktieren.
Unsere Bereitschaft zum gemeinsamen Handeln zeigen wir ja übrigens auch in Regierungsbeteiligungen in den Ländern mit Union, mit SPD und mit den Grünen.
Nach Wochen liegt aber heute unverändert ein Papier mit zahllosen Widersprüchen, offenen Fragen und Zielkonflikten vor. Und dort, wo es Übereinkünfte gibt, sind diese Übereinkünfte erkauft mit viel Geld der Bürger oder mit Formelkompromissen. Wir haben gelernt, dass auch durchaus gravierende Unterschiede zwischen CDU und CSU und FDP überbrückbar gewesen wären. Da ist wieder auch eine neue politische Nähe, auch menschliche Nähe, gewachsen. Aber am heutigen Tag wurde keine Bewegung, keine neue Bewegung, keine weitere Bewegung, erreicht, sondern es wurden Rückschritte gemacht, weil auch erzielte Kompromisslinien noch einmal in Frage gestellt worden sind.
Es hat sich gezeigt, dass die vier Gesprächspartner keine gemeinsame Vorstellung von der Modernisierung unseres Landes und vor allen Dingen keine gemeinsame Vertrauensbasis entwickeln konnten. Eine Vertrauensbasis und eine gemeinsam geteilte Idee, sie wären aber die Voraussetzung für stabiles Regieren.
Wir wissen nicht, was in den nächsten Jahren auf Deutschland in Europa und der Welt zukommt. Aber wenn dann vier Partner schon nicht in der Lage sind, bei dem Absehbaren einen gemeinsamen Plan zu entwickeln, nach so langer Zeit und so intensivem Ringen, ist das keine Voraussetzung, dafür, dass auch auf das Unvorhersehbare angemessen reagiert werden kann. Wir werfen ausdrücklich niemandem vor, keinem unserer drei Gesprächspartner, dass er für seine Prinzipien einsteht. Wir tun es aber auch für unsere Prinzipien und unsere Haltung.
Unser Einsatz für die Freiheit des Einzelnen in einer dynamischen Gesellschaft, die auf sich vertraut, die war nicht hinreichend repräsentiert in diesem Papier. Und wir haben heute an diesem entscheidenden Tag nicht den Eindruck gewonnen, obwohl allen die Dramatik der Situation bewusst war, dass dieser Geist grundlegend veränderbar gewesen wäre.
Die Freien Demokraten sind für Trendwenden gewählt worden. Und wer dieses Dokument ansieht, sieht: Es war nicht zu ambitioniert, es war nichts unrealistisch, sondern maßvoll. Wir sind für die Trendwenden gewählt worden, aber sie waren nicht erreichbar, nicht in der Bildungspolitik, nicht bei der Entlastung der Bürgerinnen und Bürger, nicht bei der Flexibilisierung unserer Gesellschaft, nicht bei der Stärkung der Marktwirtschaft und bis zur Stunde auch nicht bei einer geordneten Einwanderungspolitik.
Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht verantworten, viele der diskutierten Maßnahmen halten wir sogar für schädlich. Wir wären gezwungen, unsere Grundsätze aufzugeben und all das wofür wir Jahre gearbeitet haben. Wir werden unsere Wählerinnen und Wähler nicht im Stich lassen, indem wir eine Politik mittragen, von der wir im Kern nicht überzeugt sind. Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Auf Wiedersehen."