Istanbul: Auch Erdoğans Trutzburg wankt
Von Hans Jungbluth
Trotz Zuversicht leise Zweifel in Erdoğans Trutzburg: Die meisten Leute im Istanbuler Viertel Kasimpasa glauben – noch – an den Präsidenten, Ismet Atac, 68, zögert keine Sekunde. „ Erdoğan“, sagt er auf die Frage, wer die türkische Wahl heute gewinnen werde. Atac, ein Rentner aus eben diesem Viertel, kennt den Präsidenten noch aus der gemeinsamen Jugend hier.
Recep Tayyip Erdoğan wuchs als Sohn einer kleinbürgerlichen Familie aus der Schwarzmeer-Region in Kasimpasa auf. Sein Vater war so streng, dass er den jungen Tayyip einmal zur Bestrafung für Widerworte einem Nachbarn gegenüber an den Füßen aufhängte. Schon damals war Erdoğan ein feiner Kerl, sagt Atac aber, „und er hat sich nicht verändert“.
Mikrokosmos
Auf den Straße Kasimpasas ist der bekannteste Spross des Viertels allgegenwärtig. Wimpel von Erdoğans Regierungspartei AKP flattern im Wind, ein riesiges Plakat des Präsidenten ziert ein Parkhaus. AKP-Lautsprecherwagen beschallen das Viertel.
Atac, der einen Bekannten in einem Sanitärwaren-Geschäft besucht, sitzt mit seinen Freunden zusammen und schaut ab und zu auf den Fernseher in der Ecke – in dem gerade eine Übertragung einer Wahlveranstaltung von Erdoğan läuft.
In vielerlei Hinsicht ist Kasimpasa ein Mikrokosmos der Erdoğan-Gefolgschaft. In dem Viertel leben einfache Leute und Kleinhändler, die meisten sind fromme Muslime, die meisten Frauen tragen das Kopftuch. Gleichzeitig hat Kasimpasa den Ruf eines Schlägerviertels – so wie Erdoğan als streitbarer Politiker gilt, der angeblich ab und zu mit seinem Handy nach seinen Beratern wirft.
Leuten wie Atac ist das recht. Für sie ist Erdoğan der strenge Landesvater, der den Türken und Politikern aus anderen Ländern zeigt, wo es lang geht. Atac nennt seinen Präsidenten einen „dünya lideri“ – einen Spitzenpolitiker von Weltrang. „Mit Gottes Hilfe wird er die Präsidentenwahl im ersten Anlauf gewinnen“, hofft Atac. Bei der heute auch anstehenden Parlamentswahl setzt Atac auf einen erneuten Sieg der AKP. Für die Opposition hat er wenig übrig.
Auch die wachsende Inflation, die vielen Türken das Leben schwer macht und die Unterstützung für Erdoğan im Land bröckeln lässt, kann seine Begeisterung für den Mann an der Staatsspitze nicht trüben. Die Geldentwertung, sagt Atac, sei allein Folge eines Komplotts feindlicher ausländischer Mächte.
So ähnlich erzählt das auch Erdoğan auf seinen Wahlkampfversammlungen. In Kasimpasa stehen deshalb die allermeisten hinter Erdoğan. „Meine ganze Familie wählt ihn“, sagt eine etwa 50-jährige Frau in einem Imbiss. Mit ihrem Kopftuch habe sie vor Erdoğans Amtsantritt nicht studieren dürfen. „Heute kann ich machen, was ich will.“ Und das habe sie Erdoğan zu verdanken.
Laut dem Meinungsforschungsinstitut Konda betrachten sich neun von zehn AKP-Wählern als Opfer der Diskriminierung, die vor der Ära Erdoğan alltäglich gewesen sei. Tatsächlich hielten säkulare Eliten in Justiz, Bürokratie und Militär gläubige Muslime so gut es ging von den Schalthebeln der Macht und vom Wohlstand fern. Erdoğan dagegen hat eine Mittelschicht fromm-konservativer Türken geschaffen.
Fußball-Parallele
Die Frau im Imbiss kann sich heute ihre Bude leisten, die sie mit ihrem Bruder betreibt. Ihr geht es gut, sie sieht keinen Grund für einen Wechsel. Die Opposition, angeführt von der Säkularistenpartei CHP, ist für sie unwählbar: „Wir wissen, was die uns angetan haben.“ Solche Kommentare verdeutlichen, warum Erdoğan auch nach anderthalb Jahrzehnten an der Macht, trotz Korruptionsskandalen und trotz der Klagen über autokratische Tendenzen und Demokratie-Abbau, in allen Umfragen bei mehr als 40 Prozent Zustimmung liegt. „Wir stehen voll hinter ihm“, sagt ein Mann an einer Straßenecke.
Und doch werden selbst in Kasimpasa leise Zweifel laut. Weniger an Erdoğan persönlich als an der AKP. Der Melonenhändler Ejder zum Beispiel erwartet eine Niederlage der Erdoğan-Partei bei der Parlamentswahl, nicht zuletzt wegen der Teuerung. Gestiegene Benzinpreise bedeuten für ihn, dass er mehr für die Melonen bezahlen muss, die ihm per Lkw aus dem Süden der Türkei geliefert werden. Auch das politische Angebot der AKP gefällt ihm nicht. „Es ist wie in meinem Geschäft: Nur wenn ich gute Melonen anbiete, kommen die Leute wieder, sonst bleiben sie weg.“
Mit seiner Einschätzung liegt Ejder auf der Linie der meisten Umfragen. Selbst regierungsnahe Demoskopen gehen davon aus, dass die AKP ihre Mehrheit in der Volksvertretung nicht halten kann, auch wenn sich Erdoğan im Präsidentenamt behauptet. Manche Istanbuler erwarten sogar einen völligen Neuanfang. Ein Einzelhändler, der namentlich nicht genannt sein will, erinnert daran, dass kürzlich der Präsident des traditionsreichen Istanbuler Fußballklubs Fenerbahce nach rund 15 Jahren an der Vereinsspitze von den Mitgliedern abgewählt wurde. „Damit hatte vorher niemand so richtig gerechnet, doch dann war er plötzlich weg“, sagt der Mann. „Auch Erdoğan regiert seit anderthalb Jahrzehnten.“