Chaos und heftige Gefechte bei Geisel-Rettung im Gazastreifen
Nach der Befreiung von vier israelischen Geiseln im Gazastreifen werden immer neue Einzelheiten des dramatischen Einsatzes bekannt. Israelische Spezialeinheiten drangen am Samstag am helllichten Tag in das Flüchtlingsviertel Nuseirat im Zentrum des Küstenstreifens ein. Dort wurden nach Medienberichten vom Sonntag drei männliche Geiseln im Alter von 22 bis 41 Jahren in einem Haus festgehalten, in rund 200 Meter Entfernung in einem anderen Haus eine 26-Jährige.
Um die Bewacher der Geiseln zu überraschen, drangen die Truppen um 11.00 Uhr Ortszeit zeitgleich in die beiden Gebäude ein. Nach Angaben der von der islamistischen Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden bei dem Einsatz 210 Palästinenser getötet. Von palästinensischer Seite war die Rede von einem "Massaker" an Zivilisten in Nuseirat, in sozialen Medien kursierten schlimme Bilder von blutüberströmten Verletzten und Toten, darunter auch Kinder. Zu dem Zeitpunkt des Einsatzes waren den Angaben zufolge viele Menschen auf einem nahe gelegenen Markt unterwegs.
Der israelische Armeesprecher Daniel Hagari sagte, die Spezialeinheiten seien während des gesamten, lange vorbereiteten Einsatzes unter Beschuss gestanden. Bewaffnete Palästinenser hätten auch Panzerfäuste gegen die Truppen eingesetzt. Ein israelischer Offizier wurde bei dem Einsatz getötet.
Rettungsfahrzeug mit Geiseln unter heftigem Beschuss
Ein Rettungsfahrzeug mit den Geiseln sei unter heftigen Beschuss geraten und steckengeblieben, berichteten israelische Medien am Sonntag. Laut Militärsprecher Hagari griffen Truppen vom Boden und aus der Luft "Gefahrenquellen" in Nuseirat an. Ziel sei es gewesen, dem Rettungsteam den Abzug aus der Gefechtszone zu ermöglichen. Hagari wies Vorwürfe zurück, die Truppen seien getarnt in humanitären Hilfsfahrzeugen oder über den US-Pier nach Nuseirat eingedrungen.
Die vier Geiseln wurden letztlich mit Hubschraubern nach Israel geflogen. Die Armee veröffentlichte ein Video, in dem zu sehen war, wie die 26-jährige Noa Argamani in einen Hubschrauber am Strand des Gazastreifens gebracht wurde.
Die befreiten Geiseln seien in gutem Zustand und in ein Krankenhaus gebracht worden. Es handelt sich den Angaben nach um eine 25 Jahre alte Frau und drei Männer im Alter von 21, 27 und 40 Jahren.
Alle vier wurden demnach am 7. Oktober von Hamas-Terroristen während des Nova-Musikfestivals entführt. Die vier seien nach 246 Tagen aus zwei verschiedenen zivilen Gebäuden im Zentrum von Nuseirat in einer "komplexen, hochriskanten Mission" gerettet worden, sagte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari. Sie seien in verschlossenen Räumen festgehalten und von etlichen Menschen bewacht worden. "Sie leben. Es geht ihnen gut", sagte er. Sie würden nun im Spital mit ihren Familien wieder vereint.
Militär habe an die Tür geklopft
Die Befreiungsaktionen in beiden Gebäuden seien am Vormittag zeitgleich erfolgt, um eine Vorwarnung vor einem Armeeeinsatz und damit die Tötung der Geiseln im jeweils anderen Gebäude zu verhindern. In der Wohnung, in der sich die Frau befand, seien die Wächter vollkommen überrascht gewesen. In der anderen Wohnung sei es zu einem heftigen Feuergefecht gekommen, in dessen Zuge ein hochrangiger Polizeibeamter schwer verletzt worden und später im Krankenhaus ums Leben gekommen sei.
Hunderte Einsatzkräfte seien zugleich in der Umgebung stationiert gewesen, um den Spezialeinheiten Deckung zu geben. Die Geiseln seien, geschützt von den Einsatzkräften, heraus und zunächst in Autos gebracht worden. "Wir geben ihnen menschliche Schutzschilde, damit sie nicht ins Kreuzfeuer geraten", so Hagari. Schließlich seien die vier per Helikopter nach Israel in eine Klinik geflogen worden. Israelische Medien zitierten einen Angehörigen der befreiten Frau mit den Worten, das Militär habe am Samstagvormittag an die Tür geklopft und gerufen, dass sie gekommen seien, um sie zu retten.
Nehammer ist "sehr erleichtert"
"Sehr erleichtert" von der Rettungsaktion zeigte sich auch Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP). In einem Post of X wies er aber darauf hin, dass die Hamas immer noch viel zu viele Geiseln brutal gefangen halte. "Sie alle müssen unverzüglich freigelassen werden", forderte er unter Verweis auf die österreichisch-israelische Geisel Tal Shoham. Man konzentriere sich voll darauf, ihn wieder zu seiner Familie zurückzubringen.
Das Schicksal der befreiten Frau, die von Terroristen auf einem Motorrad entführt wurde und dabei verzweifelt weinend um Hilfe rief, bewegt Israel. Ihre Mutter leidet an Krebs im Endstadium. Die Frau hatte immer wieder darum gebeten, ihre Tochter vor ihrem Tod noch einmal sehen zu dürfen. "Wir sind überglücklich, euch zu Hause zu haben", sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant nach Angaben seines Büros. Er sprach von einer "heldenhaften Operation".
Netanyahu forderte Gantz auf, nicht zurückzutreten
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu hat seinen politischen Rivalen Benny Gantz am Samstagabend aufgefordert, nicht als Mitglied des Kriegskabinetts zurückzutreten. "Ich fordere Benny Gantz auf: Verlassen Sie nicht die Notstandsregierung", erklärte Netanyahu im Onlinedienst X. Es sei die Stunde "der Einheit und nicht der Spaltung".
Der Minister im israelischen Kriegskabinett und politische Rivale von Regierungschef Benjamin Netanjahu, Benny Gantz, hatte seine für Samstagabend angekündigte Pressekonferenz abgesagt. Der Termin sei verschoben worden, berichteten israelische Medien. Zuvor war darüber spekuliert worden, dass Gantz bei der Pressekonferenz seinen Rücktritt aus Netanyahus Regierung verkünden wolle.
Die Berichte über die Absage der Pressekonferenz fielen mit der Mitteilung der israelischen Armee zusammen, dass sie vier israelische Geisel aus der Gewalt der Hamas befreit habe. Gantz hatte Mitte Mai mit seinem Rücktritt gedroht, sollten Netanyahu und seine rechtsreligiöse Regierung bis zum 8. Juni keinen Nachkriegsplan für den Gazastreifen vorlegen. Er setzte dem Ministerpräsidenten eine Frist bis Samstag.
Der Ex-Verteidigungsminister und frühere Armeechef hatte nach dem Großangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober die Oppositionsrolle zurückgestellt und war dem israelischen Kriegskabinett als Minister ohne Ressort beigetreten.
Umfragen zufolge hätte Gantz derzeit gute Chancen, Netanyahu im Amt abzulösen, sollte die Regierung auseinanderbrechen und es zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Seine Partei hatte vergangene Woche einen Gesetzentwurf zur Auflösung des israelischen Parlaments vorgelegt und Neuwahlen gefordert.
Gantz hatte Netanyahu im Mai aufgefordert, bis zum 8. Juni einen Plan für Israels Vorgehen nach einem Ende des Gazakriegs vorzulegen. Anderenfalls werde sich seine zentristische Partei aus der Notstandsregierung zurückziehen. Die Sprecher von Gantz haben sich nicht zum Inhalt seiner geplanten Rede geäußert. Politische Kommentatoren israelischer Zeitungen erwarten einen Rücktritt des Ministers.
Inzwischen setzte die israelische Armee ihre Angriffe im Gazastreifen fort. In der nördlichen Stadt Gaza seien fünf Menschen getötet und sieben weitere verletzt worden, als ein israelischer Kampfjet ein Wohnhaus bombardiert habe, teilte der örtliche Rettungsdienst mit.
Raketenangriff auf das Flüchtlingslager Bureidsch
Nach Angaben von Ärzten im Al-Aqsa-Krankenhaus wurden zudem bei einem Raketenangriff auf das Flüchtlingslager Bureidsch im Zentrum des Palästinensergebiets sechs Menschen getötet und mehrere weitere verletzt. Die israelische Armee erklärte, sie habe bei ihren Angriffen in Bureidsch und in der Stadt Deir al-Balah "Dutzende Terrorzellen" und Infrastruktur der Hamas ins Visier genommen.
Bei Zusammenstößen während eines israelischen Armeeeinsatzes im Westjordanland wurde palästinensischen Angaben zufolge ein Mann getötet worden. Dem 22-Jährigen sei in den Rücken geschossen worden, teilte ein Krankenhaus in der Stadt Tulkarem mit.
Israels Armee soll bei dem Einsatz in dem nahe gelegenen Ort Anabta palästinensischen Medienberichten zufolge auch zwei Personen festgenommen haben. Das Militär teilte auf Anfrage mit, die Berichte zu prüfen.
Lage deutlich verschärft
Die Lage im besetzten Westjordanland hat sich seit Beginn des Kriegs zwischen Israel und der islamistischen Hamas im Gazastreifen am 7. Oktober noch einmal deutlich verschärft. Seitdem wurden nach Angaben des dortigen Gesundheitsministeriums mehr als 500 Palästinenser bei israelischen Militäreinsätzen, Konfrontationen oder eigenen Anschlägen getötet.
Hamas melden Todesfälle
Der Auslandschef der Hamas, Ismail Haniyeh, hat Israels jüngste Einsätze in Gaza als "Massaker" an den Palästinensern bezeichnet. "Der Feind setzt sein Massaker gegen unser Volk, unsere Kinder und Frauen, in Nuseirat und Deir al-Balah fort", teilte Haniyeh am Samstag mit. In beiden Orten hatten israelische Sicherheitskräfte vier Geiseln aus Gewalt der Hamas befreit. Die von der Hamas kontrollierte Verwaltung des Gazastreifens sprach von 210 Toten bei israelischen Angriffen.
Weitere 400 seien verletzt worden, erklärte die Pressestelle der Verwaltung am Samstag. Haniyeh erklärte, Israel habe "militärisch, politisch und moralisch versagt". Mit Blick auf die immer noch erfolglosen Verhandlungen über eine mögliche Waffenruhe erklärte Haniyeh, die Hamas werde keiner Vereinbarung zustimmen, die nicht "zuallererst Sicherheit für unser Volk" ermöglicht.
Es blieb unklar, ob Haniyeh sich direkt auf die Nachricht über die Befreiung der vier Geiseln aus Gewalt der Hamas bezog. Direkt erwähnte er diese in seiner Mitteilung nicht.
Proteste in Israel
Nach der Befreiung von vier Geiseln aus dem Gazastreifen haben in Israel wieder Zehntausende für ein Abkommen zur Freilassung der rund 120 verbliebenen Entführten mit der Hamas demonstriert. Bei der Hauptkundgebung in der Küstenstadt Tel Aviv versammelten sich örtlichen Medien zufolge Zehntausende. Auch in Haifa und Jerusalem versammelten sich demnach jeweils tausende regierungskritische Demonstranten, um einen Geisel-Deal sowie Neuwahlen zu fordern. Auch in Caesarea, Beersheba und vielen anderen Orten des Landes fanden Proteste statt. Seit Monaten gibt es in Israel immer wieder Massenproteste gegen die Regierung und für die Freilassung der noch immer im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln.
Der Sohn eines in der Gefangenschaft getöteten Mannes bat seinen Vater in einer Ansprache um Vergebung für das Versagen des Landes und des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahus, ihn und die anderen Geiseln nicht aus der Gefangenschaft befreit zu haben. Die Armee hatte seinen Tod sowie den drei weiterer Geiseln kürzlich verkündet.In Tel Aviv kam es Medien zufolge zu Zusammenstößen mit der Polizei, als Demonstranten versuchten, eine Autobahn zu blockieren. Die Polizei setzte dabei demnach auch Wasserwerfer ein.